Nestlé macht Babys und Kleinkinder in einkommensärmeren Ländern zuckersüchtig

Die beiden führenden Babynahrungsmarken, die Nestlé in Ländern mit tiefem oder mittlerem Einkommen als gesund und wichtig für die Entwicklung von Kindern bewirbt, enthalten hohe Mengen an zugesetztem Zucker. In der Schweiz, wo Nestlé seinen Hauptsitz hat, verkauft der Konzern solche Produkte ohne Zuckerzusatz. Dies zeigt eine gemeinsame Recherche von Public Eye und dem International Baby Food Action Network, welche die Heuchelei und das irreführende Marketing des Schweizer Nahrungsmittelriesen aufzeigt.

Meagan Adonis war 23, als sie aufgrund einer schweren Krankheit ihr Augenlicht verlor. Im selben Jahr erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete; sie machte sich Sorgen über die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, eine blinde Mutter in Südafrika zu sein. Mittlerweile kann sie damit gut umgehen und brachte vor kurzem ihr zweites Kind zur Welt. Die in Johannesburg lebende «blinde Göttin», wie sie sich in den sozialen Netzwerken nennt, teilt nun ihre Erfahrungen mit ihren mehr als 125 000 Abonnent*innen.

Im Dezember veröffentlichte Meagan Adonis mehrere Videos auf Tiktok, in denen sie die Vorteile der Cerelac-Getreidebreie für Babys ab sechs Monaten anpries. «Wie ihr sehen könnt, habe ich ein sehr lebhaftes Baby», erzählt sie. «Als blinde Mutter ist das Füttern immer ein Abenteuer [...]. Bereiten wir nun seine Lieblingsmahlzeit des Tages zu. Kleine Körper brauchen grosse Unterstützung, und Nestlé Cerelac ist die perfekte Ergänzung zu unseren Mahlzeiten», versichert sie in heiterem Ton – und vergisst dabei zu erwähnen, dass sie diese Empfehlung im Rahmen einer bezahlten Partnerschaft mit Nestlé abgibt.

Tausende Kilometer entfernt in Guatemala filmt ein Vater seine kleine Tochter, die voller Energie ist. «Nichts macht mich glücklicher, als ein gesundes und starkes Kind zu sehen», schwärmt Billy Saavedra, ein Reggaeton-Sänger, bekannt als Billy the Diamond. «Deshalb bevorzugen wir Nido 1+, das die Entwicklung ihrer Knochen und Muskeln sowie des Immunsystems fördert», erklärt er in einem Video, das im März 2023 auf seinem Instagram-Account mit über 550 000 Abonnent*innen veröffentlicht wurde, um die Folgemilch von Nestlé für Kinder ab einem Jahr zu bewerben.

Der Einsatz von Influencer*innen wie Meagan Adonis oder Billy Saavedra (und deren Kindern) ist ein zentraler Bestandteil der Marketingstrategie von Nestlé, um den Verkauf von Babynahrung anzukurbeln. Dieser Ansatz, der in vielen Branchen an Bedeutung gewonnen hat und auf Identifikation und Nähe setzt, ermöglicht es, ein breites Publikum zu erreichen. Aus dem Mund von Eltern, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, klingen Werbebotschaften wie gut gemeinte Ratschläge, sie werden zu vertrauenswürdigen Empfehlungen.

Der Markt wächst ständig

50 Jahre nach dem Skandal «Nestlé tötet Babys» versichert die Firma, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, und beteuert ihr «ungebrochenes Engagement» für eine «verantwortungsvolle Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten».

Titelseite der englischsprachigen Vorlage für die Broschüre mit dem Titel «Nestlé tötet Babys» (1974) © War on Want / Mike Muller

Titelseite der englischsprachigen Vorlage für die Broschüre mit dem Titel «Nestlé tötet Babys» (1974) © War on Want / Mike Muller

Der Nahrungsmittelriese setzt alles daran, sich als Weltmarktführer für Nahrung für Babys und Kleinkinder zu profilieren, indem er mit seinen Produkten die verschiedenen Etappen der ersten Lebensjahre eines Kindes abdeckt. Derzeit kontrolliert Nestlé 20 % des Marktes für Babynahrung, der auf fast 70 Milliarden US-Dollar geschätzt wird.

Cerelac und Nido gehören zu den meistverkauften Babynahrungsmarken des Westschweizer Konzerns in Ländern mit tiefem oder mittlerem Einkommen. Weltweiter Konzernumsatz in dieser Kategorie: mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022, laut exklusiven Daten von Euromonitor, einem Marktforschungsunternehmen, das sich auf die Lebensmittelindustrie spezialisiert hat.

In seiner eigenen Kommunikation und über Dritte bewirbt Nestlé Cerelac und Nido als Marken, die Kleinkindern helfen sollen, «ein gesünderes Leben zu führen». Mit Vitaminen, Mineralien und anderen Mikronährstoffen angereichert wurden diese Produkte nach Angaben des multinationalen Konzerns speziell für die Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern entwickelt. Sie sollen dazu beitragen, das Wachstum, das Immunsystem und die kognitive Entwicklung zu stärken.

Aber bieten diese Cerealien und Milchpulver wirklich die «bestmögliche Ernährung», wie Nestlé behauptet? Public Eye und das International Baby Food Action Network (Ibfan) wollten dies überprüfen und konzentrierten sich dabei auf eine der wichtigsten Gefahren im Bereich der Ernährung: den Zucker.

Nicht zu rechtfertigender Doppelstandard

© Trevor Patt (CC BY-NC-SA 2.0 DEED)

© Trevor Patt (CC BY-NC-SA 2.0 DEED)

Achtung, Spoiler: Unsere Untersuchung zeigt, dass für Nestlé nicht alle Babys gleich sind, wenn es um zugesetzten Zucker geht. Während in der Schweiz, wo Nestlé seinen Hauptsitz hat, die wichtigsten von Nestlé vertriebenen Getreidebreie und Folgemilchprodukte für Babys und Kleinkinder frei von Zuckerzusatz sind, enthalten die meisten entsprechenden Produkte, die Nestlé in Ländern mit niedrigeren Einkommen verkauft, zugesetzten Zucker – oft in hohen Mengen.

Ein Beispiel: In der Schweiz bewirbt Nestlé seinen Getreidebrei «mit Biscuit-Geschmack» für sechs Monate alte Babys mit dem Hinweis «ohne Zuckerzusatz», während in Senegal oder Südafrika die Cerelac-Cerealien in der gleichen Geschmacksrichtung 6 Gramm zugesetzten Zucker pro Portion enthalten.

In der Schweiz verkauft Nestlé den Milchbrei mit Biskuitgeschmack ohne Zuckerzusatz. In Südafrika und in Senegal enthalten die Cerelac-Produkte derselben Geschmacksrichtung mehr als einen Würfel zugesetzten Zucker pro Portion. © Anne-Laure Lechat

In der Schweiz verkauft Nestlé den Milchbrei mit Biskuitgeschmack ohne Zuckerzusatz. In Südafrika und in Senegal enthalten die Cerelac-Produkte derselben Geschmacksrichtung mehr als einen Würfel zugesetzten Zucker pro Portion. © Anne-Laure Lechat

In Deutschland, Frankreich und Grossbritannien – Nestlés wichtigsten Märkten in Europa – sind alle von Nestlé verkauften Folgemilchprodukte für Kleinkinder von einem bis drei Jahren ebenfalls ohne Zuckerzusatz. Obwohl einige Cerealien für Kinder über einem Jahr zugesetzten Zucker enthalten, sind alle für Babys ab sechs Monaten frei davon. Der Weizenbrei für sechs Monate alte Babys der Marke Cerelac, den Nestlé in Deutschland und Grossbritannien verkauft, enthält keinen Zuckerzusatz, während das gleiche Produkt pro Portion in Südafrika 4 Gramm enthält, in Äthiopien mehr als 5 Gramm und in Thailand 6 Gramm.

«Solche Doppelstandards sind nicht zu rechtfertigen», kommentiert Nigel Rollins, Wissenschaftler bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), unsere Recherche. Für ihn ist die Tatsache, dass Nestlé den in der Schweiz verkauften Produkten keinen Zucker zusetzt, aber durchaus bereit ist, dies in Ländern mit geringerer Wirtschaftskraft zu tun, «sowohl aus ethischer Sicht als auch aus der Sicht der öffentlichen Gesundheit problematisch». Rollins meint, dass Hersteller versuchen würden, Kinder frühzeitig an einen bestimmten Zuckergehalt zu gewöhnen, damit sie später ihre Produkte oder andere Produkte mit hohem Zuckergehalt bevorzugen. Aus seiner Sicht ist das «völlig unangebracht».

Dasselbe Cerelac-Produkt wird in Deutschland und Grossbritannien (links) ohne Zuckerzusatz verkauft, in einkommensärmeren Ländern hingegen mit hohem Zuckergehalt (rechts) © Anne-Laure Lechat

Dasselbe Cerelac-Produkt wird in Deutschland und Grossbritannien (links) ohne Zuckerzusatz verkauft, in einkommensärmeren Ländern hingegen mit hohem Zuckergehalt (rechts) © Anne-Laure Lechat

Dem versteckten Zucker auf der Spur

In den Nährwertangaben auf den Verpackungen dieser Art von Produkten wird der Gehalt an zugesetztem Zucker häufig nicht einmal offengelegt. In den meisten Ländern, einschliesslich der Schweiz, sind Hersteller lediglich verpflichtet, die Gesamtmenge an Zucker zu deklarieren, was auch den in Milch oder Früchten natürlich vorkommenden Zucker einschliesst, der nicht als gesundheitsschädlich gilt.

Während Nestlé gerne über die in seinen Produkten enthaltenen Vitamine, Mineralien und anderen Nährstoffe informiert, ist der Konzern wenig transparent, wenn es um den Zuckerzusatz geht. Um diesen «versteckten Zucker» aufzudecken, haben wir Cerelac- und Nido-Produkte aus vielen Ländern zusammengetragen, um ihre Verpackungsangaben zu prüfen und sie teilweise von einem spezialisierten Labor untersuchen zu lassen.

In Brasilien, einem der grössten Märkte, wird der Getreidebrei als «Mucilon» vertrieben. Der Zuckergehalt wird auf der Verpackung nicht deklariert. © Anne-Laure Lechat

In Brasilien, einem der grössten Märkte, wird der Getreidebrei als «Mucilon» vertrieben. Der Zuckergehalt wird auf der Verpackung nicht deklariert. © Anne-Laure Lechat

Die Sache erwies sich jedoch als komplizierter als erwartet: Mehrere Labors in der Schweiz weigerten sich, den Zucker in den Nestlé-Produkten zu analysieren. Eines schrieb uns sogar, dass es nicht an dem Projekt teilnehmen könne, da sich die Ergebnisse «potenziell negativ» auf dessen Bestandskunden auswirken könnten. Angesichts der Absagen wandten wir uns an ein Labor in Belgien. Die Ergebnisse sind aufschlussreich.

Ein Zuckerwürfel pro Portion

Cerelac ist weltweit Spitzenreiter auf dem Markt für Babycerealien; 2022 setzte Nestlé damit gemäss den Daten von Euromonitor über 1 Milliarde US-Dollar um. Wir untersuchten 115 Produkte, die in den Hauptmärkten von Nestlé in Afrika, Asien und Lateinamerika vertrieben werden. Nicht weniger als 108 dieser Produkte (94%) enthalten Zuckerzusatz.

Bei 67 dieser Produkte konnten wir die Menge des zugesetzten Zuckers bestimmen – entweder aufgrund der Deklaration auf der Verpackung oder aufgrund einer eigenen Analyse im Labor. Im Durchschnitt sind es fast 4 Gramm pro Portion, was etwa einem Zuckerwürfel entspricht. Die höchste Menge – 7,3 Gramm pro Portion – wurde in einem Produkt gefunden, das auf den Philippinen verkauft wurde und für sechs Monate alte Säuglinge bestimmt ist.

In Indien, wo Nestlé 2022 einen Umsatz von über 250 Millionen US-Dollar mit Cerelac machte, enthalten alle Cerelac-Cerealien für Babys zugesetzten Zucker – im Durchschnitt knapp 3 Gramm pro Portion. Mit 4 oder mehr Gramm Zuckerzusatz pro Portion ist die Situation in Südafrika, dem grössten Markt für Cerelac-Produkte auf dem afrikanischen Kontinent, noch etwas beunruhigender. Und in Brasilien, dem zweitgrössten Markt weltweit mit einem Umsatz von rund 150 Millionen US-Dollar im Jahr 2022, enthalten drei Viertel der Cerealien für Säuglinge der Marke Cerelac (dort unter dem Namen Mucilon vertrieben) Zuckerzusatz, durchschnittlich 3 Gramm pro Portion.

Beinahe zwei Würfel Zucker pro Portion stecken in diesen in den Philippinen verkauften Cerealien für Kinder ab sechs Monaten. © Anne-Laure Lechat

Beinahe zwei Würfel Zucker pro Portion stecken in diesen in den Philippinen verkauften Cerealien für Kinder ab sechs Monaten. © Anne-Laure Lechat

«Dies ist äusserst besorgniserregend», erklärt ­Rodrigo Vianna, Epidemiologe und Professor an der Abteilung für Ernährung der Universität des brasilianischen Bundesstaats Paraíba. «Nahrungsmitteln für Babys und Kleinkinder sollte kein Zucker zugesetzt werden, da er unnötig ist und ein hohes Suchtpotenzial hat. Kinder gewöhnen sich an den süssen Geschmack und greifen nach immer süsseren Lebensmitteln, was einen negativen Kreislauf in Gang setzt, der das Risiko erhöht, im Erwachsenenalter unter ernährungsbedingten Störungen wie Fettleibigkeit und anderen chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck zu leiden», bedauert der Experte.

Obwohl weniger ausgeprägt, ist der Trend auch bei der Marke Nido, der beliebtesten Marke auf dem Markt für Folgemilch, zu beobachten. Im Jahr 2022 setzte Nestlé gemäss Daten von Euromonitor mit Nido-Produkten für Kleinkinder im Alter von einem bis drei Jahren weltweit über 1 Milliarde US-Dollar um. Wir haben 29 Nido-Produkte untersucht, die von Nestlé in einigen der wichtigsten Märkte in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen vertrieben werden. Das Ergebnis: 21 dieser Produkte (72 %) enthalten Zuckerzusatz.

Die für diese Recherche unter die Lupe genommenen Nido-Produkte enthalten im Schnitt knapp zwei Gramm zugesetzten Zucker pro Portion. © Anne-Laure Lechat

Die für diese Recherche unter die Lupe genommenen Nido-Produkte enthalten im Schnitt knapp zwei Gramm zugesetzten Zucker pro Portion. © Anne-Laure Lechat

Bei 10  dieser Produkte konnten wir die Menge des zugesetzten Zuckers bestimmen. Im Durchschnitt wurden fast 2 Gramm pro Portion gefunden. Der höchste Wert – 5,3 Gramm pro Portion – wurde in einem Produkt gefunden, das in Panama im Verkauf ist.

Mit einem Umsatz von über 400 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 ist Indonesien der weltweit grösste Markt für Nido, vor Ort als Dancow bekannt. Beide Produkte für Kinder ab einem Jahr, die Nestlé in diesem Land verkauft, enthalten Zuckerzusatz – mehr als 0,7 Gramm pro Portion.

Der Konzern hat keine Hemmungen, die Produkte als «ohne Saccharose» zu kennzeichnen, obwohl sie Zuckerzusatz in Form von Honig enthalten. Sowohl Honig als auch Saccharose werden von der WHO als Zuckerarten eingestuft, die Babynahrung nicht zugesetzt werden dürfen. Nestlé selbst klärt auf der Nido-Website in Südafrika in einem Lernquiz darüber auf, dass der Ersatz von Saccharose durch Honig «keinen wissenschaftlichen Nutzen für die Gesundheit» hat, da beide zu «Gewichtszunahme oder sogar Fettleibigkeit» beitragen können.

In Brasilien, dem weltweit zweitgrössten Markt für Nido, weist Nestlé aus Sorge um die Gesundheit und die Ernährung von Kindern darauf hin, diese Produkte nicht mit Zucker anzureichern: «Idealerweise sollten diese Zutaten in der Kindheit vermieden werden, da der süsse Geschmack die spätere Vorliebe des Kindes für diese Art von Lebensmitteln beeinflussen kann», warnt der Lebensmittelriese auf der brasilianischen Website der Marke.

Mit Werbung für Nido-Produkte dekorierter Laden in Nicaraguas Hauptstadt Managua. © Laurent Gaberell

Mit Werbung für Nido-Produkte dekorierter Laden in Nicaraguas Hauptstadt Managua. © Laurent Gaberell

In vielen Ländern in Zentralamerika, in denen der Konzern Nido aggressiv über Influencer*innen bewirbt, enthalten die Produkte für Kinder ab einem Jahr jedoch mehr als einen Würfel zugesetzten Zucker pro Portion. In Nigeria, Senegal, Bangladesch und Südafrika – wo Nido überall zu den beliebtesten Marken gehört – enthalten alle Produkte für Kinder zwischen einem und drei Jahren zugesetzten Zucker.

«Ich verstehe nicht, warum die in Südafrika verkauften Produkte anders sein sollten als die in Ländern mit höherem Einkommen», sagt Karen Hofman, Professorin für öffentliche Gesundheit an der Universität Witwatersrand in Johannesburg und Kinderärztin. «Dies ist eine kolonialistische Praxis, die nicht toleriert werden darf», sagte sie. «Es gibt generell keinen triftigen Grund, Babynahrung Zucker hinzuzufügen», so Hofman weiter.

Erste zwei Lebensjahre sind entscheidend

Die WHO teilt diese Ansicht und warnt seit Jahren vor dem hohen Zuckerzusatz in Babynahrung und seinen langfristigen Gefahren. «Ihre Untersuchung zeigt, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um das Ernährungsumfeld von Kindern umzugestalten», so Francesco Branca, Direktor der Abteilung für Ernährung und Lebensmittelsicherheit bei der WHO, gegenüber Public Eye und Ibfan. «Zugesetzten Zucker aus Lebensmitteln für Kleinkinder zu entfernen, wäre ein wichtiges Mittel zur frühzeitigen Verhinderung von Fettleibigkeit.»

Die WHO warnt denn auch vor der Zunahme der Fettleibigkeit, insbesondere in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen, wo sie «epidemische Ausmasse» erreicht und zu einer explosionsartigen Zunahme chronischer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes führt. Der steigende Konsum von hochverarbeiteten Produkten, die oftmals viel Zucker enthalten, wird als einer der Hauptgründe für diese Epidemie genannt.

Grassierende Fettleibigkeit bei Kindern

Die Allerkleinsten sind davon nicht ausgenommen: Fettleibigkeit bei Kindern hat sich in den letzten vier Jahrzehnten verzehnfacht, so die UNO-Behörde, die schätzt, dass 39 Millionen Kinder unter fünf Jahren übergewichtig oder fettleibig sind. Die grosse Mehrheit von ihnen lebt in Schwellenländern.

«Die ersten beiden Lebensjahre eines Kindes sind wesentlich, da eine optimale Ernährung in diesem Zeitraum die Morbidität und Mortalität senkt, das Risiko chronischer Krankheiten verringert und eine bessere allgemeine Entwicklung fördert», betont die WHO. Die UNO-Agentur forderte 2022, dass sämtliche Zuckerzusätze und Süssstoffe aus der Nahrung für Babys und Kinder unter drei Jahren verbannt werden. Sie forderte die Industrie auf, «proaktiv zu handeln», «die Ziele der öffentlichen Gesundheit zu unterstützen» und die Rezepturen ihrer Produkte anzupassen.

Doch Nestlé scheint sich diesen Forderungen gegenüber taub zu stellen. Zwar empfiehlt das Unternehmen öffentlich, Babynahrung mit Zuckerzusatz zu meiden, doch scheinen diese weisen Worte nicht für Länder mit tiefen und mittleren Einkommen zu gelten, wo Nestlé weiterhin wissentlich hohe Mengen an Zucker zu einigen seiner beliebtesten Produkte hinzufügt.

Auf Anfrage von Public Eye und Ibfan nimmt Nestlé nicht Stellung zum Doppelstandard beim Zuckerzusatz, der die Schweiz und andere westliche Märkte von Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen unterscheidet. Der Konzern erklärt jedoch, er habe in den letzten zehn Jahren «die Gesamtmenge an zugesetztem Zucker im weltweiten Portfolio von Babycerealien um 11 % reduziert» und beabsichtige, sie weiter zu verringern, «ohne Kompromisse bei Qualität, Sicherheit und Geschmack einzugehen». Weiter sei Nestlé daran, Saccharose und Glukosesirup aus seinen Nido-Folgemilchprodukten zu beseitigen. Der Multi ergänzt, seine Produkte seien «vollständig konform» mit dem Codex Alimentarius und nationalen Gesetzen.

Zu lasche Vorschriften

Obwohl es den WHO-Richtlinien widerspricht, ist der Zusatz von Zucker in Babynahrung nach den meisten nationalen Gesetzen der Länder tatsächlich weiterhin zulässig. Diese gründen auf dem Codex Alimentarius, einer Sammlung internationaler Standards, die von einer zwischenstaatlichen Kommission mit Sitz in Rom entwickelt wurde. Das erklärte Ziel ist es, die Gesundheit der Konsument*innen zu gewährleisten und gleichzeitig faire Praktiken im Handel mit diesen Produkten sicherzustellen. Diese Standards, die nach der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 1995 als Referenz für Handelsfragen an Bedeutung gewannen, tolerieren Zuckerzusätze in Babynahrung bis zu einem für jede Produktart festgelegten Grenzwert – bis zu 20 % in Cerealien für Kleinkinder.

Die versammelte Codex-Alimentarius-Kommission in Rom. © FAO / Alessandra Benedetti

Die versammelte Codex-Alimentarius-Kommission in Rom. © FAO / Alessandra Benedetti

Diese Codex-Standards für Babynahrung werden von der WHO scharf kritisiert und als «unangemessen» bezeichnet, insbesondere jene für Zucker, da Kinder ihre Ernährungspräferenzen früh im Leben festigen. Die UNO-Agentur fordert, dass die Standards überarbeitet und an ihre eigenen Richtlinien angepasst werden, ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Verbot zugesetzten Zuckers. Die derzeitigen Standards seien ungeeignet, um festzustellen, ob die Vermarktung eines Lebensmittels für Babys und Kleinkinder geeignet ist, so die WHO.

«Empfehlungen der WHO sind unabhängig von jeglichem Einfluss der Branche», erklärt WHO-Wissenschaftler Rollins. «Beim Codex hingegen findet eindeutig Lobbying statt: Die Zucker- und die Babynahrungsindustrie sind immer präsent, wenn Entscheidungen getroffen werden.» Tatsächlich: Obwohl die Codex-Kommission eine zwischenstaatliche Einrichtung ist, können Branchenvertreter*innen mit Beobachterstatus oder sogar als Mitglieder der nationalen Delegationen teilnehmen. Bei einer kürzlich erfolgten Überarbeitung des Standards für Folgemilch stellten Interessenvertreter*innen der Branche mehr als 40 % der Teilnehmenden. Für Rollins ist dies der Hauptgrund, warum die Codex-Standards – und damit auch die nationalen Gesetze – schwächer sind als die WHO-Richtlinien.

Umstrittene Marketingpraktiken

Unsere Recherche zeigt, dass Nestlé aggressives Marketing betreibt, um Nido und Cerelac in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu bewerben, obwohl der Internationale Kodex der WHO die Werbung für solche Produkte verbietet. Der Kodex, 1981 nach dem Skandal «Nestlé tötet Babys» verabschiedet, untersagt die Werbung für Säuglingsanfangsnahrung, um das Stillen zu schützen. Dieses Verbot gilt auch für Folgemilch und Babynahrung, die wie Cerelac einen hohen Zuckergehalt aufweisen.

Nestlé antwortet, dass die Firma den Kodex der WHO und folgende Resolutionen der Weltgesundheitsversammlung befolge, «so wie sie weltweit von den nationalen Regierungen umgesetzt werden». Dazu ergänzt Nestlé: «Wo die lokale Gesetzgebung weniger stringent als unsere Richtlinien sind, halten wir uns an unsere strikten Richtlinien.»

Tatsächlich ist die Umsetzung des Kodex in einkommensarmen Ländern jedoch meist schwach, was vor allem auf den Druck der Industrie und der Exportländer für Babynahrung zurückzuführen ist. Ausserdem berücksichtigen Nestlés Richtlinien weder Folgemilchprodukte für Kinder ab einem Jahr noch andere Babynahrung, die jedoch unter die Bestimmungen des Kodex fallen.

Darüber hinaus bewirbt Nestlé seine Cerelac- und Nido-Produkte als gesund und reich an Nährstoffen, die für die Entwicklung von Kindern wichtig sein sollen – obwohl sie zugesetzten Zucker enthalten. «Gesundheitsversprechen von Lebensmittelproduzenten sind oftmals nicht wissenschaftlich untermauert», kommentiert Rollins. «Wenn Sie ein pharmazeutisches Produkt haben, für das Sie behaupten wollen, dass es die Gehirnentwicklung von Babys oder ihr Wachstum verbessert, müssen Sie sehr hohe Anforderungen erfüllen», erklärt er. «Doch wenn es um ein Lebensmittel geht, müssen Sie diesen Standards nicht genügen.»

In Zentral- und Westafrika betreibt Nestlé eine Facebook-Seite für «Nido-Mütter».

In Zentral- und Westafrika betreibt Nestlé eine Facebook-Seite für «Nido-Mütter».

Angaben, die sich auf den Nährwert und die Gesundheit beziehen, «idealisieren das Produkt, suggerieren, dass es besser ist als herkömmliche Lebensmittel und verschleiern Risiken», schrieb die WHO in einem Bericht aus dem Jahr 2022, der auf die missbräuchlichen Marketingpraktiken der Industrie hinweist. Sie führen die Konsument*innen in die Irre und gefährden so «die bei der optimalen Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern erzielten Fortschritte». Aus diesem Grund sollten solche Angaben nicht zur Werbung für die Nahrungsmittel verwendet werden, so die UNO-Agentur. Der Nestlé-Konzern hat sie dennoch zum Kern seiner Marketingstrategie für Cerelac und Nido gemacht.

«Intelligent aufwachsen»

«Intelligent aufwachsen»: Der Slogan ist auf riesigen Werbeplakaten im Zentrum von Jakarta und anderen grösseren Städten Indonesiens zu sehen. Er steht im Mittelpunkt der Kampagne von Nestlé, welche die lokal als Dancow verkaufte Folgemilch Nido als «Partner der Eltern für das Wachstum und die Entwicklung der Kinder» etablieren will. «Inspiriert von Mamas Liebe» und speziell formuliert, «um das Immunsystem von Kleinkindern zu unterstützen», sei Dancow «die gesündeste Wahl», wirbt Nestlé – erwähnt jedoch mit keinem Wort, dass seine Produkte Zuckerzusatz enthalten.

«Intelligent aufwachsen»: Werbeplakat in Indonesiens Hauptstadt Jakarta für die mit Zucker angereicherte Folgemilch Nido, die Nestlé hier unter der Marke Dancow verkauft. © Ibfan

«Intelligent aufwachsen»: Werbeplakat in Indonesiens Hauptstadt Jakarta für die mit Zucker angereicherte Folgemilch Nido, die Nestlé hier unter der Marke Dancow verkauft. © Ibfan

Im letzten Jahr startete Nestlé eine Kampagne zur «Unterstützung des Potenzials von Kindern ab einem Jahr in Indonesien». Im Rahmen des Projekts gelang es dem Konzern, mehr als 2 Millionen Mütter dazu zu bewegen, «aufregende Momente» mit ihren Kindern in sozialen Netzwerken zu teilen und sie so zu unbezahlten Markenbotschafterinnen zu machen. Eine von ihnen schrieb: «Danke @dancow für die Unterstützung beim Wachstum und der Entwicklung meines Kindes.»

Die gleiche bewährte Strategie wendet Nestlé in Brasilien an, um die Vorzüge der Kleinkindercerealien der Marke Cerelac (Mucilon) anzupreisen. Die Kampagne basiert auf dem Konzept der «von Mucilon angereicherten und von den Müttern gewählten Ernährung», so Dani Ribeiro, Kreativchefin der Agentur, welche die Kampagne entwickelt hat. Sie appelliert an die Liebe der Eltern zu ihren Babys, um sie zum Kauf der Produkte zu bewegen. «Die Eltern sehen sich darin bestätigt, die richtige Wahl für ihre Kinder zu treffen», erklärt sie.

In Brasilien bewirbt Nestlé Cerelac-Babybrei (Mucilon) als reich an Nährstoffen, die zur Immunität und zur Gehirnentwicklung von Kindern beitragen.

In Südafrika wirbt Nestlé unter dem Motto «Kleine Körper brauchen grosse Unterstützung» für Cerelac als Quelle von zwölf essenziellen Vitaminen und Mineralstoffen. «Seit über 150 Jahren vertrauen Generationen von Eltern auf Nestlé Cerelac, um ihr Baby mit allem zu versorgen, was es braucht», schreibt der Konzern. Dennoch enthalten alle Cerelac-Produkte, die in dem Land verkauft werden, das mit einer regelrechten Adipositasepidemie zu kämpfen hat, hohe Mengen an Zuckerzusatz.

Solche Praktiken findet Chris Van Tulleken, Professor an der Universität London und Autor des Bestsellers «Gefährlich lecker», der die Allgegenwärtigkeit und die Auswirkungen von hochverarbeiteten Lebensmitteln untersucht, höchst beunruhigend. «Diese Produkte sind weder gesund noch notwendig und nicht vergleichbar mit echten Nahrungsmitteln. Sie sind Teil eines weltweiten Trends hin zu einer hochverarbeiteten Ernährung, die mit Gewichtszunahme und Fettleibigkeit, aber auch mit vielen anderen schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit einhergeht.»

Fachpersonen sollen bei Eltern Vertrauen schaffen

Nestlé sei der Pionier des «medizinischen Marketings», einer Strategie, auf welche die gesamte Branche noch heute setze, erklärt Phillip Baker, Forschungsbeauftragter an der Universität Sydney in Australien und Autor zahlreicher Studien zu diesem Thema. Zu ihren Elementen gehören der Einbezug von Gesundheitsfachleuten und die gezielte Unterstützung durch führende Wissenschaftler*innen. Dadurch könnten sich Unternehmen als vertrauenswürdiger Partner der Eltern bei der Ernährung und Entwicklung ihrer Kinder darstellen.

Während das Hauptziel darin besteht, einen grösseren Anteil des lukrativen Marktes für Babynahrung zu gewinnen, verfolgt Nestlé ein weiteres wichtiges Ziel: die lebenslange Bindung der Konsument*innen an das Unternehmen. Baker spricht von einer «Marketingstrategie von der Wiege bis zur Bahre», die der Schweizer Lebensmittelgigant anwendet. «Die Idee ist, Kund*innen schon im Babyalter anzuwerben, sie an die Marke zu binden und ihre Geschmacksvorlieben für die Produkte zu beeinflussen», erklärt der Forscher.

«Bildungsplattformen» in mehr als 60 Ländern

Nestlé hat «Baby and Me» geschaffen, eine «Bildungsplattform», die in mehr als 60 Ländern verfügbar ist. Sie will die gesunde Ernährung von Babys fördern und liefert «von Experten bestätigte» Informationen. Inte­ressierte Eltern erhalten hier einen Mix von allgemeinen Informationen zu Ernährung und Elternschaft und Hinweisen auf Nestlé-Produkte.

Das erklärte Ziel der Plattform «Baby & Me» ist die Förderung gesunder Ernährung durch «von Spezialisten bestätigte» Informationen. Doch «Jetzt kaufen»-Buttons sind immer nur einen Klick entfernt.

Das erklärte Ziel der Plattform «Baby & Me» ist die Förderung gesunder Ernährung durch «von Spezialisten bestätigte» Informationen. Doch «Jetzt kaufen»-Buttons sind immer nur einen Klick entfernt.

«Parenteam», die philippinische Version des Programms, umfasst einen Eisprung- und Schwangerschaftskalender sowie einen Entbindungsterminrechner. In Südafrika können Eltern eine «Major moment check­list» herunterladen, um «in allen Aspekten der modernen Elternschaft zu gewinnen». In Mexiko gibt es einen Allergietest für Babys und in Brasilien einen Leitfaden für die Suche nach dem perfekten Namen. Diese Websites sind voll von Ratschlägen, Hilfsmitteln und Rezepten für Eltern. Aber die Werbung für Nestlé-Produkte und die «Jetzt kaufen»-Buttons sind immer in Sichtweite.

Expert*innen in weissen Kitteln

Nestlé organisiert auf den Onlinekanälen von Nido und Cerelac regelmässig Veranstaltungen oder Interviews mit Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich. Obwohl diese Expert*innen meist Themen im Zusammenhang mit Kinderernährung ansprechen und nicht direkt für die Produkte werben, erscheinen die Marken Nido und Cerelac an prominenter Stelle. So wird Eltern eingeredet, dass diese Produkte von führenden Wissenschaftler*innen empfohlen werden und dass die Gesundheits- und Ernährungsbehauptungen von Nestlé wissenschaftlich belegt sind.

In einigen Fällen werben Fachpersonen in weissen Kitteln sogar direkt für die Produkte. «Nidos spezialisiertes Ernährungssystem wurde entwickelt, um jede Entwicklungsphase Ihres Kindes zu schützen», erklärt zum Beispiel die Ernährungswissenschaftlerin Kenia Lawrence in einem Video, das in Panama auf Instagram veröffentlicht wurde. «Nido 1+ hilft, das Immunsystem durch Probiotika und Präbiotika zu schützen und zu stärken, und enthält wichtige Nährstoffe für die Entwicklung des Kindes.» Kein Wort jedoch über die eineinhalb Würfel zugesetzten Zucker in jeder Portion des angepriesenen Produkts.

Für Baker ist klar: «Durch den Einsatz von Gesundheitsexpert*innen zur Bewerbung solcher Produkte beeinflussen Firmen die Entscheide von Eltern stark.» Ein Einfluss, der «sehr häufig schädlich» sein könne. Diese Praxis steht auch im Widerspruch zu den Leitlinien der WHO, nach denen die Branche solche Fachpersonen nicht dazu auffordern sollte, ihre Marken und Produkte zu unterstützen und zu empfehlen.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht kritisiert die UNO-Agentur die Marketingpraktiken der Babynahrungsindustrie zur Förderung ihrer Produkte im Internet scharf und weist auf den Einsatz verschiedener Strategien hin, die oft nicht als Werbung erkennbar sind. Dazu gehören die Nutzung von Babyclubs sowie der Einsatz von Gesundheitsfachpersonen oder von Influencer*innen in sozialen Netzwerken wie Meagan Adonis und Billy Saavedra, die eingangs erwähnt wurden. Die WHO fordert die Industrie auf, diesen «missbräuchlichen Praktiken» ein Ende zu setzen.

Die Doppelmoral, welche die Untersuchung von Public Eye und Ibfan aufzeigt, kann durch nichts gerechtfertigt werden. Wenn Nestlé tatsächlich verantwortungsvoll handeln will, muss das Unternehmen aufhören, schon Babys und Kleinkinder auf den Geschmack von Zucker zu bringen – egal in welchem Land sie leben. 

Für Nestlé sind nicht alle Babys gleich süss

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Impressum

Text: Laurent Gaberell, Manuel Abebe, Patti Rundall
Deutsche Übersetzung : Swisstranslate
Redigat: Romeo Regenass
Online-Umsetzung: Fabian Lang, Rebekka Köppel