Moderne Sklaverei

Ausgebeutet bei Nestlés Kaffeelieferanten

Text: Carla Hoinkes und Florian Blumer

Recherche: Public Eye in Zusammenarbeit mit Repórter Brasil
Illustration: opak.cc
Juni 2025
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Eine exklusive Recherche von Public Eye in Zusammenarbeit mit Repórter Brasil bringt mehrere Fälle von moderner Sklaverei bei Kaffeelieferanten von Nestlé ans Licht. Dabei verspricht der Schweizer Konzern seit Jahren eine Nulltoleranz. Zwei betroffene Arbeiter erzählen, wie sie unter unmenschlichen Bedingungen schufteten, um ihren Lohn gebracht wurden und um ihr Leben fürchteten.

«Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was ich durchgemacht habe», sagt Jurandir dos Santos. «Wenn ich nur schon an Kaffee denke, kommt die ganze Erinnerung hoch».

Dennoch hat sich der 50-Jährige dazu entschlossen, zu erzählen, was ihm widerfahren ist, nachdem er sich im April 2023 als Saisonarbeiter für die Kaffee-Ernte hatte anheuern lassen, gemeinsam mit seinem Freund José Ademilson de Jesus Lima. Beide hat ein Journalist von Repórter Brasil im März 2025 im Auftrag von Public Eye in ihrem jeweiligen Zuhause zum Gespräch getroffen (hier findet sich ein Zusammenschnitt der Interviews).

Die Farm Mata Verde im Bundesstaat Espírito Santo liegt 1200 Kilometer von Aracaju entfernt, der Hauptstadt des Bundesstaats Sergipe.

Die Farm Mata Verde im Bundesstaat Espírito Santo, liegt 1200 Kilometer von Aracaju entfernt, der Hauptstadt des Bundesstaats Sergipe.

Dos Santos und Lima leben beide in Aracaju, der Hauptstadt des Bundesstaats Sergipe im von Armut geprägten Nordosten von Brasilien. Aus dieser Region reisen jedes Jahr Zehntausende Saisonarbeiter in die Kaffeeanbaugebiete im wirtschaftlich bessergestellten Südosten des Landes. Der Bedarf an Arbeitskräften ist riesig: 40% der weltweiten Kaffeeproduktion stammt aus Brasilien. Die Ernte erfolgt grossmehrheitlich in aufwendiger Handarbeit.

«Hier haben wir das Sagen»

Der 36-jährige José Lima erzählt, dass er 2022 erstmals als Erntehelfer gearbeitet hat: «Ich war arbeitslos und hatte mich von meiner Frau getrennt – also fuhr ich hin.» Das Geld, das er in den drei Monaten verdiente, die eine Ernte dauert, ermöglichte es ihm, an seinem Haus weiterzubauen, und die Arbeit sagte ihm zu – also zögerte er nicht, als ihn eine Vermittlerin kontaktierte und ihm einen Job für die Kaffeeernte 2023 anbot. Dos Santos erzählt, dass die Frau ihnen geregelte Arbeitsverhältnisse und einen guten Lohn von mindestens 120 brasilianischen Reais pro Tag versprach. Dies entspricht, Stand April 2023, rund Fr. 21.50 und liegt deutlich über dem brasilianischen Mindestlohn von damals umgerechnet knapp 12 Franken pro Tag (236 Franken pro Monat). Weitere Bekannte, denen sie vom Angebot erzählten, schlossen sich ihnen an.

Nach einer zweieinhalb Tage langen Busreise, begleitet von ihrer Anwerberin, kommen sie am 18. April 2023 spätabends auf der Farm Mata Verde im rund 1200 Kilometer entfernten Bundesstaat Espírito Santo an. Die Farm, die auf etwa 50 Hektar Robusta-Kaffee produziert (siehe «Kaffeegigant Brasilien»), liegt weit abgelegen. Abgesehen von einem kleinen Dorf gibt es nur Kaffeeplantagen, Wald und Hügel.

Kaffeegigant Brasilien

In Brasilien werden jährlich rund 4 Millionen Tonnen Kaffeebohnen geerntet. Das Land ist damit mit Abstand der weltweit grösste Produzent des Agrarrohstoffs. Während im bergigen Landesinneren, insbesondere im Bundesstaat Minas Gerais, die als hochwertiger geltenden Arabica-Sorten angebaut werden, haben sich die Kaffeefarmer im Küstenstaat Espírito Santo auf Robusta-Kaffee spezialisiert, der vor allem für löslichen Kaffee und kostengünstigere Röstmischungen verwendet wird. Sie produzieren rund ein Sechstel des weltweiten Robusta-Kaffees, in Brasilien Conilon genannt.


Zu Beginn scheint alles in Ordnung. Die Unterkunft der Arbeiter ist «schön», wie Dos Santos sagt, sie gehen ins Dorf, treffen sich in der Kneipe mit Einheimischen. «Wir haben die ersten zwei Tage mit Trinken und Feiern verbracht», sagt Lima.

Auch ein Neffe des Farmbesitzers ist jeweils dabei. Eines Abends erzählt dieser, wie ein Freund von ihm einmal in der Kneipe eine Pistole auf den Tisch gelegt habe. Als ein Polizist vorbeigekommen sei und ihn aufgefordert habe, die Waffe wegzulegen, habe sich dieser geweigert.

Lima fragt erstaunt, ob dies keine Konsequenzen gehabt habe. «Nein», habe der Mann aus der Familie des Farmbesitzers geantwortet.

«Hier gehört alles uns. In diesem Dorf haben wir das Sagen.»

Lima beschleicht ein mulmiges Gefühl. Er fragt sich zum ersten Mal, ob hier alles mit rechten Dingen zugeht.

Keine Betten, keine Duschen, kein Trinkwasser

Dann, am dritten Tag, eröffnet ihnen die Anwerberin, dass sie umziehen müssen. Ihre Sachen inklusive Matratzen hätten sie zu Fuss dorthin zu schleppen.

Nach einem langen ersten Arbeitstag brechen sie auf, zweimal müssen sie schwer beladen den 50-minütigen Fussweg zurücklegen, bis sie spätnachts die neue Unterkunft betreten. «Schon die Vorderseite des Hauses gefiel mir nicht», erzählt Lima. Der Eindruck bestätigte sich beim Blick nach drinnen:

«Der Holzboden war verrottet, an der Wand hatte es Wasserflecken.»

Schlafen müssen sie auf den dünnen Matratzen direkt auf dem Boden. Ungläubig fragt er, ob das wirklich ihre neue Unterkunft sei. «Nur vorübergehend», beschwichtigt die Anwerberin. Der Farmbesitzer sei daran, ein anderes Haus für sie instand zu setzen. Sie verspricht auch, dass sie Betten bekämen. Lima fragt in den folgenden Tagen immer wieder nach, doch: «Es kamen keine Betten.» Auch das andere Haus werden sie nie zu sehen bekommen.

Die Zustände in der Unterkunft sind menschenunwürdig. Dos Santos erzählt:

«Bei Wind haben wir gefroren in der Nacht, der verschlammte Trinkwassertank war voller Käfer und anderer Insekten.»

Es gibt keine Türen für ein bisschen Privatsphäre, keine Waschbecken oder Duschen, nur zwei Schläuche, aus denen kaltes Wasser kommt. Auch hat es weder Tische noch Stühle, die Arbeiter sind gezwungen, auf dem Boden oder auf ihren Matratzen zu essen. Der Strom fällt immer wieder aus, die Toiletten sind oft unbenutzbar. Unter dem Haus liegt Müll, der stark stinkt und Ratten anzieht.

All dies ist in einem Inspektionsbericht des brasilianischen Arbeitsministeriums festgehalten, der später angefertigt werden sollte und Public Eye vorliegt.

Limas schlichtes Fazit: «Es war unmöglich, dort zu wohnen, völlig unmöglich.»

Auch das Essen war «schrecklich», sagt Dos Santos. Es bestand im Wesentlichen aus Wurst, Reis und Bohnen. Seine Frau sei erschrocken, als er wieder nach Hause kam, erzählt der Arbeiter weiter: «Ich war mager und völlig fertig. Hosen, die mir davor gepasst hatten, musste ich mir um die Taille binden, damit sie nicht herunterrutschten.»

«Alle sind krank geworden», erzählt Lima, «auch ich: Erkältungen, Hautausschläge, Pilze, Bauchschmerzen… dauernd hatten wir Bauchschmerzen. Ein Kollege war eine Woche lang schwer krank. Wir bekamen keine Medikamente – also legten wir zusammen, um für ihn welche zu kaufen.»

Schuften zum Hungerlohn

Die Arbeiter stehen jeweils nachts um 3.30 Uhr auf. Sie bereiten das Mittagessen vor, nach einem «Frühstück», bestehend aus einer Tasse Kaffee und einem Teigklumpen aus Weizenmehl und Wasser, fahren sie um 4.30 Uhr mit einem Bus zur Plantage. Arbeitsschluss ist zwischen 16.30 und 17.00 Uhr, den Rückweg müssen sie oft zu Fuss zurücklegen, sie brauchen dafür über 45 Minuten.

Die Arbeit besteht darin, von den Zweigen der Sträucher von Hand die Kaffeekirschen abzustreifen. Diese fangen sie in einem an der Hüfte mit einem Gurt befestigten, korbähnlichen Sieb auf und füllen damit 60-Kilo-Säcke, die sie zur Strasse tragen, wo sie per Lastwagen abgeholt werden.

«Es ist eine harte Arbeit, wirklich hart», sagt Dos Santos.

Tagsüber brennt die Sonne vom Himmel, sie werden von Insekten gestochen, die Stiche und Bisse verursachen Kopfschmerzen, erzählt er. Die Plantagen liegen in hügeligem, zum Teil steil abfallendem und rutschigem Gelände.

Bezahlt wird nach geernteter Kaffeemenge. Pro 60-Kilo-Sack bekommen die Arbeiter 16 Reais (Fr. 2.90). Weil sie «keinerlei Werkzeuge erhielten, um die Kaffeebohnen leichter von den Ästen zu lösen», schafften sie durchschnittlich kaum mehr als drei Säcke pro Tag, hält der Bericht der Inspektor*innen des Arbeitsministeriums fest. So seien sie statt auf die in Aussicht gestellten 120 nicht einmal auf 50 Reais (9 Franken) pro Arbeitstag gekommen, der mit rund 12 Stunden überlang war, heisst es weiter. Das entspricht auf den Monat gerechnet gerade mal 75% des gesetzlichen Mindestlohns».

Den Kaffee verkauft der Farmbesitzer gemäss eigenen Angaben dann für 645 Reais pro 60-Kilo-Sack – also den 40-fachen Preis – an die Robusta-Grosskooperative Cooabriel weiter. Diese ist nicht nur direkter Lieferant von Nestlé, sondern beteiligt sich auch an dessen Nachhaltigkeitsprogramm Nescafé Plan (in Brasilien «Cultivado com Respeito, «mit Respekt angebaut»), das wiederum eine Zertifizierung durch den 4C-Standard voraussetzt.

Nachhaltigkeit nach Nestlé-Mass

Nestlé nutzt den
4C-Standard, um den Kaffee für die weltgrösste Kaffeemarke Nescafé im Rahmen des Nescafé Plan als sozial und ökologisch nachhaltig auszuweisen. Wie er gegenüber Medien verlauten liess, hat der Konzern, der weltweit mehr als 80% des 4C-Kaffees kauft, in den letzten Jahren in Espírito Santo stark in 4C «investiert» und mit Cooabriel – mit mehr als 7'600 Produzent*innen in Brasilien der grösste Zusammenschluss von Robusta-Farmen – erstmals eine Kooperative in den Nescafé Plan aufgenommen. Damit sei Cooabriel laut Nestlé zu einem «wichtigen Partner» bei der Beschaffung von nachhaltigem Kaffee geworden. Insgesamt kauft Nestlé fast ein Viertel seines Kaffees (mehr als 222'000 Tonnen im Jahr 2022) in Brasilien – laut eigenen Angaben zu 100% «zertifiziert und nachhaltig».

In Schulden gefangen

Selbst der Mindestlohn von umgerechnet 12 Franken pro Tag wäre bei Weitem nicht ausreichend für einen würdigen Lebensstandard. Gemäss Berechnungen des Rechercheinstituts Anker müssten Kaffeearbeiter*innen in Südbrasilien für ein existenzsicherndes Auskommen fast doppelt so viel verdienen.

Im Fall Mata Verde aber macht der Farmbesitzer zusätzlich zur illegalen Nichteinhaltung des Mindestlohns noch diverse «unzulässige Abzüge» geltend, wie die Arbeitsinspektor*innen im Bericht hervorheben. Lima sagt:

«Alles wurde uns vom Lohn abgezogen: Stiefel, Schutzkleidung, Arbeitshandschuhe, der Erntekorb, sogar die Trinkwasserflasche, die wir auf die Felder mitnahmen.»

Die Abzüge sind ebenso gesetzeswidrig wie die Tatsache, dass die Arbeiter die Kosten der Busfahrt (350 Reais) zur Farm in Raten abbezahlen müssen. Auch das unzureichende Essen wird ihnen zu Wucherpreisen in Rechnung gestellt. Dabei werden sie stets im Unwissen über die Höhe der anstehenden Abzüge gehalten, wie Lima sagt:

«Wir wussten nie, wie viel wir schuldeten. Wir wussten nur, dass wir Schulden hatten».

Denn laufend tätigt der Farmbesitzer Einkäufe, sagt, dass sie ihm all dies schuldeten, doch wenn die Arbeiter nach Zahlen und Belegen fragen, erhalten sie nur ausweichende Antworten. Dasselbe geschieht, wenn sie nach einem Arbeitsvertrag fragen. Sie werden nie einen erhalten.

Nach allen Abzügen erhält Lima von den in der ersten Arbeitswoche verdienten 220 Reais (39 Franken) gerade mal 130 Reais (22 Franken) ausbezahlt, wie er erzählt.

«Niemand verlässt die Farm» 

Bei der Arbeit werden sie vom Manager der Farm sowie von Wachleuten, die sich stets in ihrer Nähe aufhalten, streng beaufsichtigt und immer wieder schikaniert, erzählt Lima. Als der Manager in den ersten Tagen einen Freund von ihm zurechtweist und dabei seinen Arm hebt, erblickt Lima eine Pistole in seinem Hosenbund. Nun fällt ihm auf: Auch die Wachleute tragen alle eine Waffe.

Bei ihm wächst die Erkenntnis, dass er hier weg muss. Er beginnt, seine Flucht zu planen, und versucht gemeinsam mit anderen Arbeitern, einen Busfahrer zu überreden, dass er sie abholt. Doch der Farmbesitzer bekommt Wind von den Plänen. Er schickt darauf allen eine Whatsapp-Nachricht, wie Lima erzählt:

«Niemand verlässt die Farm, bevor die Schulden abbezahlt sind. Wenn jemand geht, lasse ich den Eingang zum Dorf schliessen.»

Lima fühlt sich beobachtet. Wenn er telefoniert oder sich mit Kollegen austauscht, nähern sich ihm Aufpasser. Er bekommt es mit der Angst zu tun:

«Sie könnten mir jederzeit etwas antun», denkt er. «Die Plantage ist gross, und immer wieder ist man allein beim Kaffeepflücken.»

«Drohung, Betrug, Täuschung, Nötigung»

In ihrem Bericht werden die Arbeitsinspektor*innen festhalten, dass die Kriterien für «sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen» nach brasilianischem Strafgesetz auf der Farm in nicht weniger als 24 Punkten erfüllt sind. Festgestellt wird demnach sowohl eine Reihe von «entwürdigenden Arbeitsbedingungen» wie fehlendes Trinkwasser und eine unwürdige Unterbringung als auch Schuldknechtschaft, also die Einschränkung der Bewegungsfreiheit aufgrund von Schulden, im vorliegenden Fall verstärkt durch «Drohungen, Betrug, Täuschung oder Nötigung».

Bei der Schuldknechtschaft handelt es sich um Zwangsarbeit, die gemäss Konvention 29 der Internationalen Arbeiterorganisation (ILO) verboten ist. Brasilien geht, um den Realitäten im eigenen Land gerecht zu werden, noch etwas weiter, indem es dazu auch «entwürdigende Arbeitsbedingungen» und «erschöpfende Arbeitszeiten» als «sklavereiähnlich» einstuft – ein juristischer Begriff, der oft mit «moderner Sklaverei» umschrieben wird.

Maurício Krepsky, der bis Juni 2023 die nationale Inspektionsabteilung zur Bekämpfung von Sklavenarbeit des brasilianischen Arbeitsministeriums leitete, sagt gegenüber Public Eye, dass die expliziten Gewaltandrohungen im Fall Mata Verde aussergewöhnlich seien. Generell sind sklavereiähnliche Verhältnisse im brasilianischen Kaffeeanbau jedoch weitverbreitet: Gemäss der Menschenrechtsorganisation Conectas mussten über die letzten zehn Jahre in keinem anderen Sektor so viele Arbeiter*innen aus solchen Bedingungen gerettet werden. Allein 2023 waren es 316, Expert*innen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Dass die Kaffeeproduktion die unrühmliche Rangliste anführt, hat vielfältige Gründe, wie Jorge Ferreira erklärt. Er wurde als Landarbeiter selbst Opfer von moderner Sklaverei und ist heute leitender Aktivist der Arbeitervereinigung Adere. Einer davon sei, dass der Kaffeeanbau «in seinem Wesen» auf Sklaverei beruhe, so Ferreira. Brasilien entwickelte sich während der Kolonialzeit zum bedeutendsten Anbauland.

«Bis heute respektieren unzählige Kaffeeproduzenten die Menschenrechte nicht und beuten sozial verletzliche Arbeitnehmende aus»,

erklärt der Aktivist. Dabei sind die Farmbesitzer noch immer grossmehrheitlich Weisse, die meisten Arbeiter – und Opfer von moderner Sklaverei – Männer mit afrikanischen Vorfahren. Schätzungen von Oxfam Brasilien zufolge sind während der Erntesaison bis zu zwei Drittel von ihnen informell beschäftigt, was ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zusätzlich begünstigt.

Ein Messer unter der Matratze

Nachdem er bei den Aufpassern Waffen entdeckt und realisiert hat, dass er unter besonderer Beobachtung steht, wird José Lima klar: Er muss definitiv weg von hier. Er will aber nicht, dass der Farmbesitzer straflos davonkommt, und informiert deshalb vorher die lokalen Arbeitsbehörden und die Bundespolizei. Trotz der Gefahr, der er sich damit aussetzt, filmt und fotografiert er heimlich, um die Missstände zu dokumentieren.

Einige Tage später teilt ihm die Polizei mit, dass sie einschreiten wird. Den Zeitpunkt könnten sie ihm jedoch nicht sagen. Die Nachricht vermag Lima nur kurzzeitig zu beruhigen. Er fühlt sich immer stärker bedroht: «Ich habe nur noch mit einem Messer unter der Matratze geschlafen.»

Am 1. Mai, 14 Tage nach seiner Ankunft, beschliesst er zu fliehen. Am Tag darauf schafft er es nach wiederholtem Drängen, dass sich ein Mann aus dem Dorf bereit erklärt, gegen Bezahlung eine Gruppe von Arbeitern mit seinem Lieferwagen bis zur nächsten Hauptstrasse zu fahren, wo der Bus nach Aracaju fährt. Um das Geld zusammenzukriegen, müssen sie alle bei Freunden oder Verwandten Geld leihen.

Kurz vor Mitternacht schleichen sich José Lima, Jurandir dos Santos und zwölf weitere Arbeiter aus ihrer Unterkunft. Am Ortseingang warten sie zum vereinbarten Zeitpunkt auf den Lieferwagen, um halb zwei Uhr nachts fahren sie los. «Im Lieferwagen war es sehr eng», berichtet Lima, «wir sassen übereinander und hatten eine Menge Zeug dabei. Aber endlich hatten wir es geschafft, da rauszukommen.»

Was die Fliehenden nicht wissen: Nur wenige Stunden nach ihrer Abreise treffen die Inspektoren zusammen mit der Bundespolizei auf der Farm ein. Maurício Krepsky, damals Abteilungsleiter beim Arbeitsministerium, erinnert sich, dass die lokalen Inspektoren die Gewaltbereitschaft auf der Farm als derart hoch und die Situation als so gefährlich einstuften, dass sie zur Unterstützung sein Team aus der 1400 Kilometer entfernten Hauptstadt Brasília aufboten. Die Aktion läuft dann ohne Probleme ab. Und so befinden sich kurz nach ihren geflohenen Kollegen auch zehn weitere auf der Farm verbliebene Arbeiter wieder in Freiheit.

Ein Verbrechen, das sich lohnt

Wie in solchen Fällen üblich, eröffnen die Behörden ein Verwaltungsverfahren. In Rahmen dessen verpflichtet sich der Farmbesitzer, die beanstandeten Verhältnisse zu korrigieren, Präventivmassnahmen zu ergreifen und den Arbeitern eine Abfindung in der Höhe von drei Tageslöhnen sowie Schadenersatz zu zahlen. Insgesamt erhalten sie umgerechnet rund 880 Franken pro Person plus die Kosten für die Heimreise. Zu ihrer grossen Enttäuschung erfahren Lima und Dos Santos, dass sie kein Anrecht auf diese Entschädigungen haben. Sie stehen nur denjenigen Arbeitern zu, die zur Zeit der Inspektion vor Ort gewesen sind.

Darauf wenden sie sich an einen Anwalt, der in ihrem Namen eine Klage vor dem Arbeitsgericht einreicht. Die beiden Arbeiter lassen sich schliesslich auf einen Vergleich ein und erhalten damit je 7000 Reais (rund 1250 Franken) Schadenersatz – beinahe zehnmal weniger, als sie gefordert hatten.

«Das reichte gerade mal, um meine Schulden zurückzuzahlen»,

sagt Dos Santos. Diese hatte er für die Flucht aufgenommen, aber auch schon vor der Reise für Essen und Kleider und damit seine Frau in seiner Abwesenheit durch den Alltag kommt. Weil ihr Anwalt ihre Chancen, vor Gericht zu gewinnen, als gering einschätzt, stimmen sie dem Vergleich dennoch zu.

Es sei eine Situation, in der sich viele Betroffene wiederfinden, erklärt Livia Miraglia, assoziierte Professorin in Arbeitsrecht an der Universität Minas Gerais und Spezialistin für Sklavenarbeit und Menschenhandel, im Gespräch mit Public Eye. Auch die Höhe des Schadenersatzes liege im üblichen Bereich. Denn zwar seien Brasiliens umfassende Definition und Gesetze zur modernen Sklaverei sehr fortschrittlich, jedoch nicht deren Auslegung: «Die weiss und männlich geprägte Justiz wertet die Arbeiter*innen systematisch ab», so Miraglia. Es sei üblich, dass Menschen, deren Gepäck bei einem Flug verloren geht, eine höhere Entschädigung erhielten als solche, die Opfer von Sklavenarbeit wurden.

Auch würden die Täter in der Regel kaum strafrechtlich belangt:

«Kein Farmbesitzer fürchtet sich, dass er wegen moderner Sklaverei ins Gefängnis muss»,

so die Arbeitsrechtlerin. Miraglia ist Co-Autorin einer Studie, die zeigt, dass von über 2679 Arbeitgebern, die zwischen 2008 und 2019 deswegen angezeigt wurden, gerade mal 112 verurteilt wurden – in der Regel zu kurzen Strafen, die sie nicht absitzen mussten. Die Expertin nüchtern:

«Moderne Sklaverei ist ein Verbrechen, das sich lohnt.»

Die vielleicht folgenreichste Bestrafung für Arbeitgeber, die der modernen Sklaverei überführt werden: Ihr Name landet in einem öffentlich einsehbaren Register. Wer auf dieser Liste steht, erhält keine Kredite von staatlichen Banken, die Geschäftsbeziehungen werden erschwert. Allerdings erlischt der Eintrag bereits nach zwei Jahren. Auch der Name des Besitzers der Farm Mata Verde erscheint im Frühjahr 2024 auf der Liste. Auf unsere Anfrage streitet er dennoch vehement ab, dass er sich der Sklaverei bediente und sein Personal bewaffnet war.  

Wirkungslose Kontrollen

Noch weniger als die Farmbesitzer müssen sich Akteure weiter oben in der Lieferkette vor Konsequenzen fürchten: Kooperativen, Kaffeehändler und Röstkonzerne wie Nestlé. Diese würden von der Justiz nicht angetastet, erklärt Livia Miraglia. Ein Grundproblem ist zudem die fehlende Transparenz in den Lieferketten. Denn im Normalfall lässt sich nicht nachvollziehen, von welchen Farmen Händler und schliesslich die Unternehmen, die den Kaffee verarbeiten und verkaufen, den Rohstoff beziehen. Einige Konzerne wie Nestlé publizieren zwar Lieferantenlisten mit Namen von Zwischenhändlern und Kooperativen, jedoch nicht von Kaffeefarmen. So lassen sich die Verstrickungen der Kaffeekonzerne mit moderner Sklaverei nur in Einzelfällen und durch aufwendige Recherchen überhaupt ans Licht bringen.

Nestlé hat schon vor neun Jahren, nachdem erstmals ein Fall von moderner Sklaverei in seiner brasilianischen Kaffeelieferkette bekannt geworden war, seine «Nulltoleranz» gegenüber solchen Vorfällen beteuert. So hat der Multi seither auch den Anteil des zertifizierten, also vermeintlich gesetzeskonformen und in seinen Worten «verantwortungsvoll beschafften» Kaffees in Brasilien auf 100% erhöht.

Gleichzeitig kommen bis heute weder Nestlé und Co. noch Zertifizierer wie 4C der von Arbeitervertreter*innen und Menschenrechts-NGOs seit vielen Jahren erhobenen Forderung nach, die Geschäftsbeziehungen mit Kaffeefarmen transparent zu machen.

Konzerne wie Zertifizierer werden selbst meist erst durch behördliche Inspektionen auf die Missstände aufmerksam. Solche fanden aber gemäss der NGO Conectas bis heute gerade mal auf 1 von 1000 brasilianischen Kaffeefarmen statt. Auch im Fall Mata Verde hat der Nestlé-Lieferant Cooabriel die Geschäftsbeziehungen mit dem Produzenten im Mai 2023 abgebrochen, nachdem die Polizei eingeschritten war. Der Zertifizierer 4C teilte auf Anfrage mit, dass die Farm «nach Bekanntwerden des Falls» – es gab direkt danach Berichte in regionalen Medien – «aus dem Zertifizierungssystem ausgeschlossen worden» sei. Offenbar hatten Audits durch 4C bis dahin keine Unregelmässigkeiten ans Licht gebracht.

Für Arbeitervertreter Jorge Ferreira ist das wenig überraschend. Seiner Auffassung nach schützen Nachhaltigkeitszertifizierungen generell nicht vor moderner Sklaverei – eine Einschätzung, die Arbeitsinspektor Maurício Krepsky teilt. Er sagt, dass ihn seine Erfahrung im Feld gelehrt habe, dass diese oft komplett an den Realitäten auf den Plantagen vorbeigingen:

«Oft werden Audits mehrere Monate vor der Erntesaison durchgeführt. Und sogar bei sogenannt unangekündigten Überprüfungen werden die Betriebe jeweils ein bis zwei Tage im Voraus informiert.»

Zudem würden zentrale Grundprobleme wie die weitverbreitete Schwarzarbeit von den Zertifizierern in der Regel schlicht nicht beachtet, so der Inspektor.

Kein Einzelfall in der Nestlé-Lieferkette

Wie unsere Recherchen – trotz mangelnder Transparenz in den Lieferketten – zeigen, ist Mata Verde nicht die einzige Farm in Nestlés Lieferkette, auf der in den letzten drei Jahren gravierende Missstände ans Licht kamen. So stellten Arbeitsinspektor*innen im Jahr 2022 auf den Farmen Três Irmãs sowie Primavera im nördlich von Espírito Santo gelegenen Bundesstaat Bahia, die ebenfalls den Nescafé-Plan-Partner Cooabriel belieferten, massive Verstösse gegen das brasilianische Arbeitsrecht und auf Três Irmãs auch moderne Sklaverei fest.

In einem dritten Fall mussten am 4. Juli 2023 drei Arbeiter auf der Farm Vista Alegre in Patrocínio im Bundesstaat Minas Gerais aus sklavereiähnlichen Bedingungen befreit werden. Rechnungsbelege zeigen, dass die Farm ihre Ernte an NKG Stockler verkaufte, eine Tochter des weltgrössten Kaffeehändlers Neumann Kaffee Gruppe mit Sitz in Hamburg und wichtigen Handelsniederlassungen in Zug. Die Ernte war durch Nespressos firmeneigenes Nachhaltigkeitslabel AAA zertifiziert, für die Lieferung erhielt der Produzent einen entsprechenden Aufpreis. Bemerkenswert ist, dass NKG Stockler offenbar nicht einmal von der behördlichen Inspektion gewusst hat, wie sich in der Reaktion der Firma auf unsere Fragen zeigt: Die Handelsfirma gibt an, dass sie die Geschäftsbeziehung zur betreffenden Farm, die den behördlichen Vorwurf der Sklaverei zurzeit juristisch anfechtet, erst auf unseren Hinweis – und damit eineinhalb Jahre nach dem Vorfall – «pausiert» habe. Nestlé bestätigt auf Anfrage, dass der Nespresso-Lieferant vom AAA-Programm «suspendiert» wurde, «nachdem wir von den Vorfällen erfahren haben» (siehe «Stellungnahme Nestlé» unten).

Profit vor Menschenrechten

Dazu sagt Jorge Ferreira, dass es bei Weitem nicht ausreiche, wenn Unternehmen wie Nestlé als Reaktion auf moderne Sklaverei einfach ihre Geschäftsbeziehungen zu betreffenden Farmen abbrechen. Stattdessen sieht er sie in der direkten Verantwortung, ihr effektiv vorzubeugen. Seine Organisation Adere habe deshalb schon wiederholt an Nestlé appelliert und mit Konzernvertreter*innen diskutiert. Ferreiras Fazit ist ernüchternd:

«Nestlé gibt vor, sich für die Rechte der Arbeiter zu interessieren. Doch das Interesse hört auf, sobald es darum geht, konkrete Verbesserungen umzusetzen – und diese zu bezahlen.»

Stattdessen schiebe der Schweizer Konzern die Verantwortung zur Einhaltung der Arbeits- und Menschenrechte – und damit auch die Kosten dafür – auf die Kaffeeproduzenten ab. (Zum Problem der generell zu tiefen Preise, die der Nestlé-Konzern für Kaffee zahlt, siehe die Reportage «Pulverisierte Hoffnung» aus Mexiko vom März 2024.)

Der Fall von José Lima und Jurandir dos Santos zeigt, dass die fehlende Prävention für Menschen wie sie dramatische Folgen haben kann. Für beide halten sie bis heute an. Lima fuhr im Jahr darauf wieder zur Kaffee-Ernte, auf eine andere Farm in Espírito Santo. Aber er tat dies mit Angst, wie er sagt: «Ich dachte, der Farmbesitzer von Mata Verde kann mich ausfindig machen und jederzeit jemanden schicken, um mich zu töten.»

Für Jurandir dos Santos war sein erstes auch gleichzeitig sein letztes Mal. Die Erfahrung habe ihn traumatisiert. Er hat eine klare Botschaft:

«Den Leuten in den grossen multinationalen Konzernen möchte ich nur eines sagen: Schaut genau hin, was ihr tut. Denn Kaffee einzukaufen, ist einfach. Der harte Teil der Arbeit ist, ihn zu ernten. Es sind wir, die Arbeiter, die dafür sorgen, dass ihr überhaupt zu eurem Kaffee kommt. Und das wisst ihr nicht zu schätzen.»

Stellungnahme Nestlé

Auf Anfrage erklärt Nestlé, dass das Unternehmen derzeit von «der 4C-zertifizierten Gruppe» aus insgesamt 500 Farmen der Kooperative Cooabriel (eine Untereinheit aller Cooabriel Farmen) Kaffee beziehe. Der Konzern hält fest, dass er von den im Artikel erwähnten Farmen Mata Verde, Três Irmãs und Primavera keinen Kaffee beziehe, diese seien auch nicht Teil des Nescafé Plan. Jedoch äusserst sich Nestlé nicht zu den Handelsbeziehungen in der Vergangenheit, auch nicht zur Farm Mata Verde, die bis zu ihrem Ausschluss aus dem Zertifizierungs-System im Juni 2023 4C-zertifizierten Kaffee an Cooabriel lieferte.

Nestlé schreibt weiter: «Wir stehen in direktem Kontakt mit Cooabriel, um die Wichtigkeit sicherer und fairer Arbeitsbedingungen auf allen Farmen zu betonen, von denen wir unseren Kaffee beziehen.» Zur Farm Vista Alegre sagt Nestlé: «Nachdem wir von den Vorfällen erfahren haben, haben wir entschlossen reagiert und die Farm aus unserem AAA Sustainable Quality Program ausgeschlossen, bis Beweise vorliegen, dass die Farm unsere strikten Vorgaben erfüllt». Nestlés Lieferant NKG Stockler wurde erst im März 2025 durch Repórter Brasil und Public Eye auf die Vorfälle aufmerksam.  

Weitere Fragen, etwa darüber, ob und wie Nestlé existenzsichernde Löhne für Erntearbeiter garantieren will, blieben unbeantwortet.

Die vollständige Stellungnahme von Nestlé finden Sie
hier.

Videointerview mit José Lima und Jurandir dos Santos

Die beiden Erntearbeiter berichten ausführlich über die Zustände auf der Farm, die Arbeitsbedingungen und ihre Flucht. Sie erklären, wen sie in der Verantwortung sehen - und sie haben eine klare Botschaft an die Konzerne und die Kaffeekonsument*innen.

Schauen Sie auch unseren Videopodcast mit der Mitautorin des Berichts, Landwirtschaftsexpertin Carla Hoinkes, die über die Recherche berichtet.

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Impressum

Text: Carla Hoinkes und Florian Blumer
Redigat: Romeo Regenass
Recherche: Public Eye in Zusammenarbeit mit Repórter Brasil
Video: Repórter Brasil, Untertitel Public Eye
Illustrationen: opak.cc

Die Illustrationen wurden auf der Grundlage von Fotos und den detailreichen Erzählungen von José Lima und Jurandir dos Santos frei gestaltet.