Heisse Luft und schwarzer Rauch
Eine Recherche von Marie Maurisse, Gewinnerin des Public Eye Investigation Award
Für ihre Schokolade ist die Schweiz weltweit berühmt. Weniger bekannt ist, dass die Schweiz fast gleich viele Zigaretten exportiert wie Schoggi. Und dies mit äusserst dehnbaren Qualitätsstandards: Die in Afrika verkauften Zigaretten sind viel giftiger als die Zigaretten für den europäischen Markt.
Die Recherche in knapp drei Minuten, von Marie Maurisse.
Die Recherche in knapp drei Minuten, von Marie Maurisse.
Unterwegs nach Casablanca
Über der alten Medina von Casablanca geht langsam die Sonne auf. In den engen Gassen der marokkanischen Wirtschaftshauptstadt plaudern die Bewohner miteinander, Kinder spielen hinter den filigran geschnitzten Holztüren Verstecken. Vor seinem Kleiderladen raucht Marwan eine Zigarette. Es ist nicht die erste und wird auch nicht die letzte dieses langen Tages sein. Sein Geschäft schliesst Marwan erst wieder am Abend. Was raucht er? «Winston», sagt er und zeigt uns die Zigarettenschachtel. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir die vertraute Angabe:
«Made in Switzerland»
Diesen Vermerk werden wir während unseres Aufenthalts in Marokko Mitte Oktober 2018 überall antreffen. In der alten Medina, in den Gymnasien, Cafés und Restaurants der Stadt sehen wir Männer, Frauen und Jugendliche, die Zigaretten aus Schweizer Produktion rauchen. Es sind immer die gleichen Marken: Winston, Camel und Marlboro.
Auf der Terrasse des Café «Le Noble» im Einkaufsviertel Maârif drückt Ibtissam ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, bevor sie zur Arbeit aufbricht. «Ich habe mit zwölf Jahren angefangen und möchte nicht mit dem Rauchen aufhören», erklärt die junge Frau. «Für mich ist es ein Gefühl der Freiheit», fügt sie hinzu. Weiss sie, dass sie Schweizer Zigaretten raucht? «Natürlich. Für mich ist das eine Qualitätsgarantie. Sie sind besser als marokkanische Zigaretten.»
Uhren, Schokolade, Raucherhusten
Die Schweiz rühmt sich, köstliche Schokolade und aus- gefeilte Uhrwerke in die ganze Welt zu exportieren. Es gibt allerdings auch ein anderes, sehr erfolgreiches Exportprodukt, über das die Schweiz nicht so gerne spricht: Zigaretten. Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz 34,6 Milliarden Zigaretten, also knapp zwei Milliarden Päckli, hergestellt. Etwa 25 Prozent davon waren für den Binnenmarkt bestimmt. Fast 75 Prozent wurden exportiert: genug für den Jahresverbrauch von mehr als vier Millionen Menschen, die täglich eine Schachtel rauchen.
Die Tendenz ist momentan rückläufig, seit 2011 haben sich die Exportzahlen von Zigaretten aus der Schweiz fast halbiert. Gemessen am Wert steht unser Land auch lediglich an 15. Stelle der Zigaretten exportierenden Länder, weit hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten, Deutschland und Polen. Dennoch ist dieser Geschäftszweig für die Schweizer Wirtschaft von Bedeutung.
«Die Exporteinnahmen aus Tabakprodukten im Jahr 2016 (561 Millionen Franken) sind vergleichbar mit den Exporteinnahmen wichtiger Schweizer Exportgüter wie etwa Käse (578 Millionen Franken) oder Schokolade (785 Millionen Franken).»
Die wichtigste Exportdestination für Schweizer Zigaretten ist Japan. Auch die in der Schweiz ansässige Firma Japan Tobacco International (JTI) produziert hierzulande. Ob und wie viele Zigaretten die Firma in das Land der aufgehenden Sonne liefert, ist unbekannt. Das Unternehmen nimmt zu unserer entsprechenden Anfrage nicht detailliert Stellung. Marokko und Südafrika sind nach Japan die zweitwichtigsten Zielländer für den Export von Schweizer Zigaretten.
Drei Tabakriesen auf Schweizer Boden
Das Unternehmen Philip Morris International (PMI) hat seinen operativen Sitz in Lausanne. Die Firma betreibt zudem in Neuenburg ein Werk, das 2017 über 15 Milliarden Zigaretten und erhitzbare Tabakeinheiten produzierte, das sind 15 Prozent ihrer weltweiten Produktion. Die Produkte werden unter Markennamen wie Iqos Heets, Marlboro, Chesterfield oder L&M verkauft. Der Hauptsitz der Holdinggesellschaft Philip Morris Products AG befindet sich ebenfalls in Neuenburg. Ihr Umsatz betrug im Jahr 2017 29 Milliarden Franken.
Auch British American Tobacco (BAT) unterhält Büros in Lausanne sowie eine Fabrik in Boncourt im Kanton Jura, die der Konzern 1966 der jurassischen Industriellenfamilie Burrus abkaufte. An diesem Standort produziert der Konzern Zigaretten der Marken Pall Mall, Gladstone, Dunhill, Lucky Strike, Kent, Winfield, Vogue, Players, Parisienne und Alain Delon. Der Umsatz für 2017 belief sich auf 26 Milliarden Franken.
Japan Tobacco International (JTI) hat seinen Sitz in Genf, in einem funkelnagelneuen Gebäude. In der Schweiz verfügt JTI zudem über ein grosses Werk im luzernischen Dagmersellen. Im Jahr 2017 produzierte der japanische Konzern in dieser Fabrik 10,8 Milliarden Zigaretten, die sich auf 16 Marken verteilen. Die bekanntesten unter ihnen sind Winston, Camel und Natural American Spirit. Umsatz 2017: 18 Milliarden Franken.
Eine verschwiegene Industrie
Die Eroberung Marokkos
Im Jahr 2017 wurden 2900 Tonnen Schweizer Zigaretten nach Marokko exportiert – das sind rund 3,625 Milliarden Stück. In den Mini-Märkten des Landes kostet eine Packung 33 Dirham (CHF 3.50). Die ärmsten Raucherinnen und Raucher kaufen ihre Zigaretten einzeln, für zwei Dirham das Stück. Die Schachteln sind deklariert: Sie tragen einen Stempel mit Sicherheitsdruckfarben der Schweizer Firma SICPA.
Lange Zeit wurden in Marokko sämtliche Zigaretten im Land selbst hergestellt, insbesondere durch die Société Marocaine des Tabacs. 2003 führte ein neu erlassenes Gesetz über Tabakwaren zu einer Liberalisierung des Sektors. Bald darauf drängten internationale Konzerne auf den Markt. Heute werden 55 Prozent der in Marokko konsumierten Zigaretten importiert. Der grösste Posten kommt aus der Schweiz, der zweitgrösste aus der Türkei.
Die Zigaretten kommen per Schiff am Hafen Tanger-Med, nordöstlich von Tangier, oder direkt in Casablanca an. Unsere Gesprächspartner vor Ort versichern uns, die Ware werde von Zollbeamten kontrolliert. Die Beamten öffneten die Container, wählten nach dem Zufallsprinzip eine Kiste aus und überprüften dann, ob die Ladung den Deklarationen entspreche.
In unserer Untersuchung stellten wir durchgehend fest, dass nur die Entrichtung von Abgaben kontrolliert wird. Der Zoll ist somit das einzige Kontrollorgan für Tabakwaren. Die Inhaltsstoffe von Zigaretten oder deren Toxizität unterliegen keiner Überwachung.
Weltweit leben 80 Prozent der Raucherinnen und Raucher in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt ihre Anzahl in Afrika auf 77 Millionen, was 6,5 Prozent der Bevölkerung des Kontinents entspricht. Bis 2025 rechnet die Organisation mit einer Zunahme um fast 40 Prozent gegenüber 2010. Das wäre der stärkste Anstieg an Raucherinnen und Rauchern weltweit. Gemäss WHO wird die «Tabakepidemie» bis 2030 zu einer Verdoppelung der tabakbedingten Todesfälle in Afrika führen.
Marokko scheint für die Zigarettenfirmen ein hervorragendes Tor zum afrikanischen Markt zu sein. Laut einer Studie des marokkanischen Gesundheitsministeriums sind 13 Prozent der Raucherinnen und Raucher unter 15 Jahre alt. Und der Anteil der rauchenden Mädchen gleicht sich zunehmend dem Anteil der Jungen an.
Kompensation für sinkende Erträge in Europa
In Europa läuft der Trend in eine andere Richtung. In den letzten 20 Jahren ist der Tabakverkauf in der Schweiz dank Präventionskampagnen und Preiserhöhungen um 38 Prozent gesunken. Deshalb bewerben die Tabakkonzerne in Europa nun neue Geräte, sogenannte «risiko- arme Produkte» für den Nikotinkonsum. Angeblich sollen diese ohne die Schadstoffe von Tabak auskommen. Wie die Tageszeitung Le Temps kürzlich berichtete, macht das Geschäft mit dem Tabakerhitzer Iqos bei Philip Morris jedoch «trotz der beträchtlichen eingesetzten Mittel erst sechs Prozent des Produktionsvolumens der Gruppe oder zwölf Prozent des Umsatzes aus».
Bis Iqos und andere rauchfreie Rauchergeräte echte Erträge generieren – sollte dies jemals der Fall sein – müssen PMI und ihre Konkurrenz weiterhin Zigaretten verkaufen. Und zwar in grossen Mengen. Schwellenländer sind ein bevorzugtes Ziel. Und dies aus einem einfachen Grund: Sie verfügen nicht über die notwendigen Mittel für eine proaktive Gesundheitspolitik. Die Zigarettenindustrie hat also freie Bahn.
Intensives Lobbying
Um junge und neue Kunden zu gewinnen und ihre Zigarettenpackungen zu positionieren, verfolgen die Tabakkonzerne in Afrika eine äusserst aggressive Geschäftspolitik. In Kenia und Uganda versucht der BAT-Konzern, staatliche Massnahmen zur Tabakprävention zu verhindern, wie die Zeitung The Guardian im Juli 2017 aufdeckte. Die Kenya Tobacco Control Alliance (KETCA) hat dagegen Beschwerde eingereicht. Der Fall liegt derzeit beim Obersten Gerichtshof Kenias. In Togo, Burkina Faso und Äthiopien behauptete derselbe Zigarettenhersteller in offiziellen Briefen, eine neutrale Verpackung ohne Warnhinweise hätte keinen Einfluss auf den Tabakkonsum.
In Industrieländern wie der Schweiz äussern sich die Hersteller ganz anders und thematisieren immer häufiger auch von sich aus die schädlichen Auswirkungen des Rauchens. Um die Menschen von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen, hat der PMI-Konzern sogar bei der Gründung der «Stiftung für eine rauchfreie Welt» mitgeholfen und sich verpflichtet, zwölf Jahre lang 80 Millionen Dollar pro Jahr einzuschiessen.
Dieser rhetorische Spagat wird von der WHO kritisiert. In einem «Report über die globale Tabakepidemie» schreibt die Organisation 2017: «Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Massnahmen wie Tabakbesteuerung, bebilderte Warnhinweise, ein vollständiges Verbot von Werbung, Verkaufsförderung und Sponsoring sowie Hilfe bei der Raucherentwöhnung die Nachfrage nach Tabakerzeugnissen verringern.»
Das Forschungsteam kritisiert in dem Bericht, dass PMI umfassendes Lobbying betreibe und langwierige und kostspielige gerichtliche Klagen gegen evidenzbasierte Massnahmen zur Eindämmung des Tabakkonsums einreiche. Die WHO nennt insbesondere das Beispiel eines Schiedsverfahrens zwischen PMI und Uruguay. In diesem Land – mit einer Bevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen – gab der Tabakriese 24 Millionen Dollar aus, um Gesundheitswarnungen auf Zigarettenpackungen zu verhindern. Der Konzern verlor den sechsjährigen Rechtsstreit.
In Marokko wurde ein Gesetz verabschiedet, das Rauchen in Bars und Restaurants verbietet. Es wird jedoch nicht durchgesetzt, was uns Fachpersonen bestätigen.
Präventionsprogramme in Schulen sind selten und werden von Verbänden durchgeführt, die nur über sehr begrenzte Mittel verfügen. Im Jahr 2012 erliess Marokko ein Gesetz zur Begrenzung des Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalts in Zigaretten, entsprechend den Regelungen in Europa. Die Vollzugsverordnung dazu wurde aber nie erlassen. Und kein Labor überprüft diese Werte.
Im Labor
Wir wollten mehr über die Zusammensetzung der in Marokko verkauften Zigaretten aus Schweizer Produktion erfahren. Aus diesem Grund haben wir eine Untersuchung veranlasst, die es unseres Wissens bisher noch nie gegeben hat: Wir verglichen den Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt von Zigaretten, die in Europa und in Marokko konsumiert werden. Das ist nicht so einfach, da es keine öffentlichen Daten zu diesem Thema gibt. Zwar sind die Werte teils auf den Zigarettenpackungen vermerkt. Aber werden sie von den Herstellerfirmen auch wirklich eingehalten? Sind die Schweizer Zigaretten, die in Marokko geraucht werden, identisch mit denjenigen, die wir am Kiosk in der Schweiz oder in Frankreich kaufen können? Der einzige Weg, dies herauszufinden, ist die Analyse von Proben.
Doch selbst in der Schweiz gibt es kein Labor mehr, das über die notwendigen Geräte verfügt, um solche Analysen vorzunehmen. Das bestätigte uns Adrien Kay, Mediensprecher des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Für die Schweiz – mit ihren internationalen Tabakkonzernen und Zigarettenfabriken – ist dieser Fakt erstaunlich. Wir fanden schliesslich ein Labor, das sich bereit erklärte, die Untersuchung durchzuführen: das Institut für Gesundheit am Arbeitsplatz in Lausanne, das dem Universitätsspital CHUV angegliedert ist. Es ist ein von der WHO anerkanntes Laboratorium.
Eine neuartige Rauchmaschine
Um unser Anliegen umzusetzen, musste der Laborchef Gregory Plateel gemeinsam mit dem Forscher Nicolas Concha-Lozano zuerst eine Rauchmaschine bauen: drei Zigarettenhalter, eine Pumpe zum Saugen, ein Glasbehälter, in dem der konzentrierte Rauch eingefangen wird. Nichts wurde dem Zufall überlassen: Ein Computer steuerte die Maschine, die jede Minute für zwei Sekunden einen Zug von 35 Milliliter Volumen nahm.
Um sicherzustellen, dass das Gerät richtig eingestellt war, wurde es zunächst mit einer Referenz-Zigarette namens 1R6F getestet. Diese markenfreie Zigarette wird von der Universität von Kentucky zur Verfügung gestellt und ist speziell für Forschungslabors konzipiert.
Nachdem die Maschine die Zigarette fertig «geraucht» hatte, wurden Rauch und Filter analysiert, um die Gesamtpartikelmasse – Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid – zu bestimmen. Eine einzige Zigarette ist natürlich nicht repräsentativ. Um gesicherte Daten zu erhalten, wurde aus drei verschiedenen Packungen jeweils eine Zigarette gezogen und dann der Durchschnitt ermittelt. Diese Arbeiten beschäftigten das Forschungsteam über mehrere Wochen.
Gefährlicher Doppelstandard
Gregory Plateel und Nicolas Concha-Lozano untersuchten nicht weniger als 30 Zigarettenschachteln aus Marokko, Frankreich und der Schweiz, die wir im September angeliefert hatten. Die Methodik entspricht den ISO-Normen, die für Forschende bei solchen Tests als Standardreferenzen dienen. In der Schweiz wie auch in Europa gilt die Norm 10-1-10, d.h. 10 mg Teer, 1 mg Nikotin und 10 mg Kohlenmonoxid. Das sind die Maximalwerte dieser Stoffe, die eine auf dem schweizerischen oder europäischen Markt verkaufte Zigarette enthalten darf. Diese Norm wurde als Referenz für die Analyse unserer Proben verwendet.
Die Ergebnisse sind eindeutig: Zigaretten, die auf Schweizer Boden hergestellt, aber in Marokko verkauft werden, sind viel stärker, haben ein wesentlich höheres Suchtpotenzial und sind zudem deutlich giftiger als Zigaretten, die in der Schweiz oder in Frankreich zu kaufen sind.
Die festgestellten Werte zeigen, dass hier mit einem Doppelstandard gearbeitet wird. Die Menschen in Marokko rauchen Zigaretten, die schädlicher sind als die Zigaretten für Europäerinnen und Europäer. Für jeden der drei getesteten Parameter wiesen die in Marokko konsumierten Zigaretten höhere Werte auf als diejenigen in der Schweiz oder in Frankreich. Und das, obwohl die Zigaretten für alle drei Länder in der Schweiz hergestellt wurden.
Eine Winston-Probe aus Marokko enthielt beispielsweise über 16.31 Milligramm Gesamtpartikelmasse pro Zigarette, die in Lausanne gekauften Winston Classic jedoch nur 10.5. Hinsichtlich des Nikotingehalts sind die Unterschiede zwischen den in der Schweiz und den in Marokko verkauften Zigaretten besonders frappant: 1.28 Milligramm pro in Marokko erworbener Camel „Made in Switzerland“ gegen knapp 0.75 Milligramm in Camel Filters, die in der Schweiz gekauft wurden. Auch beim Kohlenmonoxid, das den Sauerstoffgehalt im Blut reduziert, macht es einen grosen Unterschied, ob man Winston Blue in Marokko (9.62 Milligramm pro Zigarette) oder in der Schweiz (5.45 Milligramm) raucht. Und trotz des beschwichtigenden Namens: In Casablanca Camel light zu rauchen ist schädlicher als Camel Filters in Lausanne.
In einigen Fällen waren die gemessenen Werte höher als die Angaben auf den Zigarettenpackungen. Dies gilt insbesondere für die Nikotinwerte in Zigaretten für den marokkanischen Markt: Winston-Zigaretten enthielten 1,5 Milligramm Nikotin, obwohl die Packung 1 Milligramm angab. Laut dem in Paris und Lausanne tätigen Toxikologen Ivan Berlin verstärkt eine höhere Dosis Nikotin auch das Suchtpotenzial:
«Ein stärkeres Suchtpotenzial bedeutet, dass es schwieriger ist, auf das Rauchen zu verzichten, was wiederum eine höhere Toxizität mit sich bringt.»
Jacques Cornuz ist Direktor der medizinischen Universitätspoliklinik Lausanne, Epidemiologe und leitete von 2007 bis 2014 die Eidgenössische Kommission für Tabakprävention. An unseren Resultaten gibt es für ihn nichts zu beschönigen: «Das ist wie der Wechsel von einem 20-Tonnen-LKW auf einen 40-Tonnen-LKW.»
Die Antworten der Firmen
JTI, der Hersteller der Winston- und Camel-Zigaretten, antwortete auf unsere Fragen wie folgt: «Alle Tabakprodukte sind mit Gesundheitsrisiken behaftet.» Im Übrigen könne «keine standardisierte Methode die tatsächlichen Konsumgewohnheiten der Raucher nachahmen.» Daher beurteilt die Firma unsere Ergebnisse als ungenau. Darüber hinaus könne «niemand sagen, eine Zigarette sei weniger giftig als die andere, zum Beispiel anhand des Geschmacks.» Warum aber sind ihre Zigaretten für den marokkanischen Markt stärker als die anderen? Auf diese Frage erhielten wir keine Antwort.
Der Mediendienst von PMI weist darauf hin, dass «Konsumenten auf der ganzen Welt unterschiedliche Präferenzen» hä en. «Aufgrund dieser Präferenzen wird der Tabak nach spezifischen Mischungen und Blattgraden ausgewählt, um Konsistenz und Eigenschaften jeder Marke, wie z.B. Marlboro Rot, zu wahren.»
Warum enthalten die in Marokko verkauften Marlboro-Produkte aber mehr Teer als die in der Schweiz gerauchten? «Wir raten davon ab, sich lediglich auf Teerwerte zu konzentrieren», sagt PMI. Es bestehe ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Teer kein genauer Indikator für Risiken oder mögliche Gesundheitsschäden sei, und dass die Angabe von Messwerten zu Teer für die Konsumierenden irreführend sei. Zu den Ergebnissen betreffend Nikotin, die höher sind als auf der Packung angegeben, hält die Firma fest, dass «die Anforderungen der ISO 8243-Norm erfüllt werden, da sie eine gewisse Abweichung zulässt».
In der Zigarettenfabrik
Ausgehend von Marokko versuchten wir, die Produktionskette der Tabakindustrie zurückzuverfolgen. Wir wollten herausfinden, wie Herstellungsprozesse ablaufen, warum die Tabakkonzerne überhaupt in der Schweiz angesiedelt sind und wie es dazu kommen konnte, dass die Schweiz minderwertige Zigaretten in Schwellen- und Entwicklungsländer liefert.
Wir besuchten die einzige Zigarettenfabrik der Schweiz, deren Geschäftsleitung bereit war, uns zu empfangen: die Koch & Gsell AG in Steinach. Das in einem Industriegebiet am Rande von St. Gallen gelegene Unternehmen wurde 2015 von Roger Koch gegründet, einem 40-jährigen Deutschschweizer, der zuvor ein Übersetzungsbüro besass. Er empfängt uns inmitten von Rauchschwaden.
Grosse Freiheit
Heute produziert er 30 000 Zigarettenpackungen pro Woche. Die meisten seiner Zigaretten werden in der Schweiz konsumiert. Gelegentlich hat Koch Kontakt zu den Behörden: Die Sicherheit der Maschinen und die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden wird von verschiedenen kantonalen Stellen inspiziert, ebenso die Umweltverträglichkeit seiner Produktion. Auch Zollbehörden sind involviert, die bestätigen, dass die Produkte korrekt deklariert sind und dass alle Abgaben auf den Rappen genau entrichtet wurden.
Fehlende Kontrollen
Wird auch die Zusammensetzung der Zigaretten kontrolliert? «Das war nie der Fall, bis letzten Oktober», sagt Roger Koch. «Die Lebensmittelkontrolle hat einige unserer Proben zur Analyse mitgenommen. Wir haben keine Rückmeldung erhalten, ich schätze, sie haben hauptsächlich den CBD-Gehalt getestet.» Ein Teil der Produktion von Roger Koch beinhaltet dieses Cannabis- Derivat. Im Übrigen schickt er jeden Monat etwa hundert Zigaretten an das deutsche Labor ASL, das den Gehalt von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid nach der von den Bundesbehörden festgelegten Norm 10-1-10 prüft.
Nachlässige Behörden
Die Tabakwarenverordnung schreibt vor, dass die vor- her erwähnten Grenzwerte eingehalten werden müssen: «Wer Zigaretten in Verkehr bringt, muss nachweisen können, dass diese die Anforderungen erfüllen.» Für die Einhaltung dieser Bestimmung sind grundsätzlich die Kantone verantwortlich. Analysieren diese jemals die in Umlauf befindlichen Zigaretten? Intervenieren sie bei den Fabriken, um sicherzustellen, dass die Inhaltsstoffe gesetzlich zugelassen sind, wie es manchmal bei Lebensmitteln vorkommt?
«Nach unserem Kenntnisstand werden die Angaben auf den Packungen in der Schweiz nicht überprüft»
Was passiert, wenn die Ergebnisse für die Zigaretten von Kochs Marke «Heimat» höher sind als die vorgeschriebenen Werte? Der Laborbericht wird nicht an die Behörden geschickt, sondern an verschiedene Kunden, z.B. an Coop. Es gäbe aber keinerlei Sanktionen. «Es liegt an uns, etwas zu ändern», sagt Roger Koch. Die einzige Möglichkeit bestünde darin, die Tabakmischung ein wenig anzupassen. Es gebe keinen einfachen Weg, um die Werte zu ändern. «Man kann den Tabak zwar mit Wasser waschen, aber dies würde die Qualität beeinträchtigen. Oder die Filter können perforiert werden, sodass zusammen mit dem Rauch mehr Luft aufgenommen wird. Aber das ist Trickserei, so etwas machen wir nicht.»
Seinen Zigaretten dürfte Roger Koch im Prinzip Dutzende von Produkten beimischen, wie die entsprechende Liste auf der Webseite des BAG zeigt. Er tut es aber nicht. Denn er möchte seine Heimat-Zigaretten künftig auch in der EU verkaufen, dort gelte diese Freiheit nicht. Deshalb plant Roger Koch auch den Bau einer Fabrik im grenznahen Deutschland, nur wenige Kilometer von Steinach entfernt.
Schizophrene Schweiz
Der Bund hat grosse Vorbehalte gegenüber einer allfälligen Verschärfung der Tabakregulierung. Die Präsenz von Tabakkonzernen auf Schweizer Boden spielt für die Haltung der Behörden offensichtlich eine Rolle. Ein KPMG-Bericht vom Oktober 2017 schätzt den Beitrag der Tabakindustrie zur Schweizer Wirtschaft insgesamt auf 6,3 Milliarden Franken pro Jahr oder auf knapp ein Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts. Der Sektor beschäftigt laut KPMG rund 11 500 Menschen. Hinzu kommen Arbeitsplätze, die mit der Tabakindustrie verbunden sind, zum Beispiel im Tabakanbau.
Die anfallenden Steuereinnahmen sind nicht unerheblich. Genaue Zahlen dazu sind nicht zu erfahren. In Neuenburg wird jedoch gemunkelt, dass die von PMI geleisteten Steuern die Hälfte der kantonalen Einnahmen aus Unternehmenssteuern ausmachen.
Die Schweiz bietet Zigarettenherstellern viele Vorteile. Ihr wichtigster Trumpf ist wohl das besonders flexible regulatorische Umfeld. Die Zigaretten und deren Zusammensetzung werden in der Tabakverordnung geregelt. Erlaubte Inhaltsstoffe sind alle für Lebensmittel zugelassenen Aromen, Zucker, Honig, Gewürze und fast sämtliche synthetischen Süssungsmittel. Zigaretten können eine ganze Reihe von Feuchthaltemitteln, Bleichmitteln für die Asche, Verbrennungsbeschleunigern, Konservierungsstoffen sowie von Klebe- und Bindemitteln enthalten.
«Solche Inhaltsstoffe sind grundsätzlich nicht dafür gedacht, verbrannt und dann inhaliert zu werden. Bei der Verbrennung entstehen oft giftige oder gar krebserregende Stoffe.»
Die Verordnung formuliert ausserdem keinerlei Anforderungen im Bereich Gesundheitsschutz für die Konsumierenden, sondern hält lediglich fest: «Beizufügen sind die toxikologischen Angaben der verwendeten Stoffe in verbrannter und unverbrannter Form, soweit sie der meldepflichtigen Person bekannt sind.» Pascal Diethelm versteht die Verordnung so, dass die meldepflichtige Person einfach behaupten kann, die toxikologischen Angaben nicht zu kennen, um die Produktionsgenehmigung zu erhalten.
Im Vergleich dazu sind die europäischen Vorschriften viel strenger.
Exporte werden nicht kontrolliert
Die Schweiz kontrolliert also die von ihrer Bevölkerung gerauchten Zigaretten nicht, und genauso wenig interessiert sie sich für exportierte Zigaretten aus Schweizer Produktion, wie die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) bestätigt. In diesem Fall gelten nämlich nicht die Schweizer Normen, sondern die Vorgaben des Ziellandes.
In der Europäischen Union wäre eine solche Differenzierung nicht möglich, denn dort schreibt die Richtlinie 2001/37/EG auch für exportierte Zigaretten Höchstwerte für den Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt vor. Die Schweiz hat hier also einen Vorteil: Sie ist das einzige Land auf dem europäischen Kontinent, das giftigere Zigaretten produziert, als sie für die eigene Bevölkerung erlaubt.
Der Bund fördert somit Doppelstandards. Er profitiert von dieser Ungleichbehandlung und nimmt dabei in Kauf, dass sich Probleme der öffentlichen Gesundheit in den Importländern verschlimmern.
Auf Anfrage erklärt das Bundesamt für Gesundheit, dass die fehlende Exportkontrolle Ausdruck des «Willens des Parlaments» sei. Im Jahr 2012 forderte eine Motion des Neuenburger Freisinnigen Laurent Favre, der unterdessen Regierungsrat des Kantons geworden ist, dass der «Export von in der Schweiz hergestellten Zigaretten in Nicht-EU-Mitgliedstaaten ohne Einschränkungen weiterhin» ermöglicht werden müsse. Die Motion wurde angenommen.
Wie wir in Casablanca feststellen konnten, kontrolliert Marokko die Inhaltsstoffe der aus der Schweiz importierten Zigaretten der Marken Winston und Camel nicht. Die Zollbehörden stellen lediglich sicher, dass die geschuldeten Abgaben ordnungsgemäss bezahlt wurden. Marokko ist kein Einzelfall: Nur wenige Länder verfügen über ein Labor, das importierte Zigaretten systematisch untersucht. Laut WHO ist Burkina Faso das einzige Land in Afrika, das eine solche Überprüfung vornimmt.
Selbst wenn es Kontrollen gibt, werden die Testverfahren teils ausgetrickst. In Frankreich hat das nationale Anti-Tabak-Komitee kürzlich Beschwerde gegen Zigarettenfirmen eingereicht. Der Vorwurf lautet, dass Filter mit mikroskopischen Löchern eingesetzt werden, welche die Testresultate verfälschen. Dabei saugt die Maschine mehr Luft und folglich kleinere Mengen an Schadstoffen ein, als dies der Fall ist, wenn jemand beim Ziehen an der Zigarette den Filter gleichzeitig mit den Fingern zusammendrückt. Das ist der Trick, den der Fabrikant der Heimat-Zigaretten, Roger Koch, uns gegenüber erwähnt hatte. Dieses Vorgehen erinnert an den Abgas-Skandal bei Volkswagen, der mittlerweile zu ersten Prozessen in Deutschland geführt hat. Volkswagen hatte zur Umgehung von Abgastests einen Abschaltmechanismus in der Motorsteuerung eingerichtet.
Starke Lobby im Schweizer Parlament
Die Zigarettenkonzerne arbeiten intensiv daran, die Bereitschaft von Regierungen zum Erlass von Regulierungen im Bereich Tabak zu untergraben. Auch in der Schweiz laufen entsprechende Bemühungen. In unserem kleinen Land gibt es enge Verbindungen zwischen Unternehmen und Politikerinnen und Politikern. Ein aktueller Dokumentarfilm der Westschweizer Sendung Temps Présent zeigt, wie der Verband «Allianz der Wirtschaft für eine massvolle Präventionspolitik» (AWMP) gegen strengere Tabakregulierungen kämpft. Dem Verband gehören derzeit zwölf Mitglieder des Ständerats und 40 des Nationalrats an, also etwa ein Fünftel aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier.
Etliche von ihnen scheuen sich nicht, den Standpunkt der Tabakunternehmen einzunehmen. Einige sind allgemein dafür bekannt, z.B. Gregor Rutz, SVP-Nationalrat und Präsident der Vereinigung des schweizerischen Tabakwarenhandels. Andere haben nur indirekte Verbindungen zum Sektor, wehren sich aber gegen eine Stärkung der Präventionspolitik in diesem Bereich, wie Hans-Ulrich Bigler, Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands. Ehemalige Parlamentsmitglieder nehmen Jobangebote der Zigarettenkonzerne an, wie z.B. Sylvie Perrinjaquet aus Neuenburg, die sich auf ihrer Website rühmt, Beraterin bei PMI zu sein, und ein Badge mit Zutrittsrecht zum Parlament besitzt.
Im Kanton Neuenburg befinden sich der Hauptsitz und die Fabrik von PMI. Wir erinnern uns: Dessen heutiger Regierungsratspräsident Laurent Favre hatte 2012, noch als Mitglied des Schweizer Parlaments in Bern, gegen die Übernahme der 10-1-10-Grenzwerte der Europäischen Union durch die Schweiz geworben. Heute lehnt er unsere Interviewanfrage unter dem Vorwand ab, es handle sich um ein «altes Mandat».
Schizophrene Haltung der Schweiz
Im vergangenen Oktober fand die «Achte Tagung der Konferenz der Vertragsparteien des WHO-Rahmenabkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums» statt. Dieses Treffen, das als COP8 bekannt ist, ha e zum Ziel, die Kontrolle und Rückverfolgbarkeit in der Tabakindustrie zu stärken und auch die Werbung für Tabakprodukte zu verbieten. Die Schweizer Delegation zeigte sich vor Ort kleinlaut: Bern hat das Abkommen nicht ratifiziert und ist zu keinerlei Kompromissen bereit.
Doch die WHO-Zahlen sind erdrückend: Tabak tötet jeden zweiten Raucher, jede zweite Raucherin. Jedes Jahr sterben sieben Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums.
Es liegt am Parlament, dies zu ändern. Die Parlamentsmitglieder beraten derzeit über das neue Tabakproduktegesetz, das die Zigarettenwerbung einschränken soll. Gemäss unseren Informationen könnte jedoch das Gegenteil eintreten. Neutrale Verpackungen sind anscheinend kein Thema mehr, und auch auf die Einschränkung der Werbung soll verzichtet werden.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen diesen Entwurf versenken: Es darf nicht so weitergehen, dass die Schweiz 1,7 Milliarden Franken pro Jahr für die Behandlung von Tabakkrankheiten ausgibt und gleichzeitig diesem tödlichen Industriezweig den roten Teppich auslegt. Die gleiche schizophrene Haltung zeigt sich auch darin, dass die Schweiz Anti-Tabak-Programme in Tansania finanziert, aber den Konzernen PMI, BAT und JTI ermöglicht, hierzulande hochgiftige Zigaretten für den tansanischen Markt zu produzieren.
Investigative Recherchen zum Jubiläum
Die Aufdeckung verborgener Fakten kann die Welt verändern: Aus dieser Überzeugung hat sich Public Eye dazu entschlossen, zu ihrem 50. Geburtstag einen «Investigation Award» zu schaffen. Dieser Preis für investigative Recherchen soll die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sowie von NGOs unterstützen, die das Treiben von Schweizer Unternehmen in benachteiligten Ländern und dessen Folgen untersuchen.
Eine aus renommierten Medienschaffenden und Mitarbeitenden von Public Eye bestehende Jury wählte aus den 55 eingegangenen Projekten zwei aus, die schliesslich mit einem Crowdfunding finanziert wurden. 325 Personen machten mit und finanzierten damit diese Recherche von Marie Maurisse. Ausserdem ermöglichten sie es Gie Goris, Journalist und Chefredaktor des flämischen MO* magazine, und Nicola Mulinaris von der NGO Shipbreaking Platform, in die trüben Gewässer der südasiatischen Schiffsfriedhöfe einzutauchen und den Praktiken von Schweizer Reedereien auf den Grund zu gehen. Herzlichen Dank dafür!
Der Investigation Award steht auch für die lange Tradition der investigativen Recherche bei Public Eye. Seit 50 Jahren setzt sich die Organisation unermüdlich dafür ein, illegitime und illegale Praktiken Schweizer Unternehmen ans Licht zu bringen.
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Eine Recherche von Marie Maurisse, in Zusammenarbeit mit Théa Ollivier
Fotos: Louis Witter/Hans Lucas, Mark Henley/Panos Pictures, Feisal Omar/Reuters, Marie Maurisse, Sébastien Monachon. Infographik: opak.cc. Videos: Maxime Ferréol und Géraldine Viret, Public Eye. Webumsetzung: Floriane Fischer, Public Eye.