Wo Schiffe sich zum Sterben verstecken

Eine Recherche von Gie Goris und Nicola Mulinaris, Gewinner des Public Eye Investigation Award

Wenn Hochseekreuzer ausgedient haben, gelten sie als Giftmüll. Ihre Entsorgung ist aufwendig und teuer, wenn man Menschen und Umwelt schützen will. Mit ein paar Tricks lassen sich Schiffe aber auch an südasiatischen Stränden abwracken, wo sie das Meer verpesten und Werftarbeiter gefährden.
Auch Schweizer Firmen sparen so viel Geld.

Die Recherche in knapp drei Minuten, von Gie Goris und Nicola Mulinaris.

Die Recherche in knapp drei Minuten, von Gie Goris und Nicola Mulinaris.

Die Strasse nach Alang ist gesäumt von Läden und Lagerhäusern, in denen Gegenstände verkauft werden, die einst über die Ozeane segelten. Eichenpulte, künstliche Kristalllüster, Schwimmwesten und Rettungsboote, Seile, elektrische Kabel und Schalter, Ledersessel, Gemälde, riesige Generatoren und Motoren – alles steht hier zum Verkauf. Es ist Schiffsrecycling im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn all diese Güter in Wirklichkeit nur Zusatzprodukte sind. Der eigentliche Grund, warum riesige Schiffe an der Küste von Alang gestrandet werden, sind ihre metallenen Rümpfe und Innenrahmen. Stahl ist hier die wahre Profitquelle.

Vor ein paar Jahren noch waren Alang und das benachbarte Sosiya vergessene Fischerdörfer an der Nordwestküste Indiens. Heute sind sie berühmt – oder berüchtigt – wegen der zahlreichen Abwrackwerften, die sich kilometerlang über den Strand des Golfs von Khambhat erstrecken, da, wo das Arabische Meer tief in den Bundesstaat Gujarat dringt. Malerische Strände wurden hier zu riesigen Schiffsfriedhöfen.

Nur wenige Tage vor unserer Ankunft in Alang Anfang September 2018 starben zwei Männer bei einem Unfall auf einer Abwrackwerft namens «Honey», die von der auf dieses Geschäft spezialisierten RKB-Gruppe betrieben wird. Bhuddabhai Kudesha aus Alang und Ali Ahmed aus Jharkhand wurden Opfer einer Industrie, deren Arbeiter laut der International Labor Organisation (ILO) «einen der gefährlichsten Jobs der Welt» verrichten. Kein Jahr zuvor wurde die gleiche Abwrackwerft von der Schweizer Firma MSC genutzt, um ihr Containerschiff MSC Alice abzuwracken. Doch mehr dazu später.

Bhuddabhais letzter Tag

Bhuddabhai war 33 Jahre alt. Wie an jedem anderen Arbeitstag stand er auch am 31. August gegen sechs Uhr morgens auf, als die ersten Sonnenstrahlen sein Dorf allmählich weckten. Seine Kinder, ein achtjähriger Sohn und zwei Töchter im Alter von sechs und vier, schliefen noch und seine Frau bereitete bereits das Frühstück vor. Vor sechs Jahren hatte Bhuddabhai es geschafft, einen Arbeitsplatz auf einer Abwrackwerft in Alang zu ergattern, bloss drei Kilometer von seinem Haus entfernt.

Er war sich bewusst, wie selten es einem Mitglied der «Koli» gelingt, Arbeit in dieser Branche zu finden. Die Koli, ursprünglich eine niedere Fischerkaste, verdingen sich heute vor allem als saisonale Tagelöhner in der Landwirtschaft. Es war zwar kein besonders gut bezahlter Job, aber er brachte immer noch einen besseren Lebensunterhalt als die Farmarbeit, die sein Vater und sein jüngerer Bruder Rajabhai verrichteten.

Am Morgen des Unfalls war Bhuddabhai damit beschäftigt, in der MV Ocean Gala Toilettenschüsseln abzumontieren. Sein Arbeitgeber würde auch diese später an jene Secondhand-Läden verkaufen, die sich an der Strasse nach Alang befinden. Bhuddabhai half seinem Vater oft bei der Feldarbeit, am Sonntag oder frühmorgens, bevor er mit seiner Honda Hero Splendor pünktlich um 7.30 Uhr losfuhr. Am 31. August nahm Bhuddabhai das letzte Mal die staubige Strasse von seinem Haus zur «Honey Ship Breaking Yard».

Dhammabhai Kudesha, der Vater von Bhuddabhai, einige Tage nach dem tragischen Unfalltod seines Sohnes auf der MC Ocean Gala im August 2018

Dhammabhai Kudesha, der Vater von Bhuddabhai, einige Tage nach dem tragischen Unfalltod seines Sohnes auf der MC Ocean Gala im August 2018

Als wir wenige Tage darauf in Alang ankamen und mit seiner Familie sprachen, waren die genauen Umstände des Unfalls immer noch unklar. Scheinbar brach ein Teil des Schiffsrumpfs überraschend ab und Bhuddabhai wurde zusammen mit Ali Ahmed, einem Gasschneider, der im neunten Stock des Schiffs die Stahlhülle durchtrennte, um einen zusätzlichen Ausgang zu schaffen, in die Tiefe gerissen. Keiner von beiden trug Sicherheitsgurte. Das sei auch nicht vorgeschrieben, so der Werftbesitzer. Sie arbeiteten ja im Inneren des Schiffs; nur jene, die es von der Aussenseite zerteilen, sind verpflichtet, Sicherheitsgurte zu tragen.

Arbeitsrechte? Fehlanzeige!

Eine endlose Problemliste

Um die Zustände in Alang besser zu verstehen, treffen wir Vidyadhar Rane. Der Gewerkschaftssekretär versucht vor Ort die Schiffsabwracker zu organisieren. Schlüsselthemen sind dabei die Sicherheitsprobleme und die medizinische Versorgung, doch auch andere wichtige Arbeitsbedingungen müssen dringend verbessert werden:

«Unterkünfte. Toiletten. Betriebskantinen. Korrekt vergütete Überstunden. Bezahlte Urlaubstage. Kranken- und Unfallversicherung für alle. Ausreichende Krankenhauskapazität.»

Letztere kann bei Katastrophen über Leben und Tod entscheiden. Nach seinem Unfall wurde Bhuddabhai ins nächstgelegene öffentliche Krankenhaus nach Bhavnagar gebracht, eine mehr als 50 Kilometer von Alang entfernte Provinzstadt. Diese Fahrt über eine schmale zweispurige Strasse voller Schlaglöcher, umherwandernder Kühe und gefährlichen Verkehrs dauert mehr als eine Stunde. Es gibt dort zwar eine kleine Klinik mit zehn Betten des Indischen Roten Kreuzes sowie das über 20 Betten verfügende Alang-Krankenhaus, aber keine dieser Einrichtungen verfügt über eine adäquate Ausrüstung zur Behandlung schwerer Verletzungen. Wenn man bedenkt, dass die 15 000 bis 30 000 Arbeiter auf ungefähr 160 Abwrackwerften unter gefährlichsten Umständen riesige Schiffe zerlegen, ist die vorhandene medizinische Versorgung, gelinde gesagt, mangelhaft. Mangels offizieller Zahlen beruhen diese Schätzungen auf den stark schwankenden Angaben von Werftbetreibern, Gewerkschaftern und Behörden. Die Zahlen werden zudem durch Schwarzarbeit verfälscht, die in dieser Industrie gängig ist.

Schwarzarbeit statt Tarifverhandlungen

«Es gibt keine Gewerkschaften in Alang», erklärt uns Nikhil Gupta, Mitinhaber von Rudra Green Ship Recycling, einer der «besseren» Abwrackwerften. «Genau deshalb ist das Wirtschaftsklima in Gujarat auch so toll: Wir brauchen keine Gewerkschaften, weil hier sowieso alle am gleichen Strang ziehen.» Gupta macht diese überraschende (und völlig unzutreffende) Aussage am Ende eines Gesprächs, während dem er versuchte, uns die wirtschaftlichen Gesetze von Angebot und Nachfrage zu erklären, welche die byzantinische Welt der globalisierten Schifffahrt und die Entsorgung der Ozeanriesen bestimmen. Oder wie Industriekapitäne wie er es lieber nennen: «das Schiffsrecycling». Obwohl die anderen Werftbesitzer, die wir interviewen, sich nicht so abschätzig äussern, pflegt kein einziger von ihnen auch nur den Anschein einer formalen Beziehung mit etwas, das einer Gewerkschaft ähnelt. Sie führen auch keinerlei Tarifverhandlungen, weder im Unternehmen noch – Gott bewahre – auf Branchenebene. «Wenn es Probleme gibt, sprechen wir direkt mit den Arbeitern. Das geht viel schneller», meint Nitin Kanakiya, Sekretär der «Ship Recycling Industry Association» (SRIA) und Eigentümer der Triveni Abwrackwerft in Alang.

Eine Milliarden-Rupien-Industrie

Dr. Sahu Geetanjoy, Forscher am «Tata Institute for Social Studies» in Mumbai

«Die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer sind unzureichend und werden nicht durchgesetzt», konstatiert Dr. Sahu Geetanjoy, Forscher am «Tata Institute for Social Studies» in Mumbai und einer der wenigen Akademiker, die sich mit den Arbeitsbedingungen in der Schiffsabwrackindustrie befassen. Das mangelnde Engagement der Behörden bei der Durchsetzung von Arbeits- und Umweltvorschriften erklärt er mit den finanziellen Eigeninteressen der Regierung. Durch Steuern und die Abgaben für die gepachteten Strände spülen die Werften rund 7 Milliarden Rupien (ca. 87,5 Millionen Franken) pro Jahr in die Staatskasse von Gujarat.

Als wir Bhuddabhais Familie fragten, was sie sich vom Eigentümer der Abwrackwerft erhoffe, kam die Antwort prompt: «Nichts.»

Die jahrhundertelang marginalisierten Kolis haben noch nie etwas von den Reichen oder den oberen Kasten erwartet. Bhuddabhais Bruder und Neffe wissen nicht, ob sie überhaupt entschädigt werden und wenn ja, mit welcher Summe. Uns gegenüber versichert Raj Bansal, der «Honey»-Werftbesitzer, dass die Familie rund 6250 Franken erhalten werde, was etwa drei Jahresgehältern auf der Abwrackwerft entspricht. Eine Rente für die Witwe, so Bansal weiter, komme aber sicher nicht in Frage.

Bhuddabhais Schicksal ist beispielhaft für die Gefahr, in die sich Zehntausende Männer begeben, wenn sie an den Stränden Südasiens die Riesen der Ozeane zerlegen, um sich und ihre Familien zu ernähren.

Gemäss den Daten der belgischen NGO Shipbreaking Platform werden jährlich rund 1000 Schiffe zerlegt. 65 bis 75 Prozent davon landen auf einem der drei Strände in Indien, Pakistan und Bangladesch.

Sobald ein Schiff zur Abwrackung bestimmt ist, gilt es nach internationalem Recht als Sondermüll, insbesondere nach dem Basler Übereinkommen von 1989 über die Kontrolle des grenzüberschreitenden Transports gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung.

Fast sechsmal so tödlich wie Bergbau

Das Abwracken von Schiffen ist zu einem bedeutenden Menschenrechts- und Umweltproblem geworden. «Es gehört zu den gefährlichsten Tätigkeiten der Welt mit inakzeptabel vielen Todesfällen, Verletzungen und arbeitsbedingten Krankheiten», warnte die International Labor Organisation im Jahr 2015.

Dr. Geetanjoy vom Tata Institute erklärt, dass es laut Daten der staatlichen Behörde für Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz («Gujarat Industrial Safety and Health Department») zwischen 1983 – dem Beginn der lokalen Abwrackindustrie – und 2013 allein in Alang zu mindestens 470 Zwischenfällen mit Todesfolge kam. «Es gibt kein zentrales und zuverlässiges Unfallregister der Werften», so Geetanjoy. Der Oberste Gerichtshof Indiens verglich die Anzahl tödlicher Unfälle auf den Schiffsfriedhöfen (2 pro 1000 Arbeiter) mit jenen im Bergbau (0,34 pro 1000 Arbeiter), «die eigentlich als am stärksten unfallgefährdete Branche gilt», doch fast sechsmal weniger Unfälle mit Todesfolge verzeichnet.

Dr. Sahu Geetanjoy, Forscher am «Tata Institute for Social Studies» in Mumbai

Dr. Sahu Geetanjoy, Forscher am «Tata Institute for Social Studies» in Mumbai

UNO kritisiert Externalisierung aller Kosten

In einem Report beschrieb der UN-Sonderberichterstatter für Giftmüll, Baskut Tuncak, 2009 die Langzeitrisiken der Schiffsabwrackung als Zeitbombe für Mensch und Umwelt: «Auf den Werften sind die Arbeitnehmer oft hochgiftigen Chemikalien wie etwa Asbeststaub und -fasern ausgesetzt, die zwar seit Jahrzehnten verboten, auf Schiffen aber immer noch vorhanden sind. Das gilt auch für Blei, Quecksilber, Arsen oder Cadmium in den Anstrichen, Beschichtungen und elektrischen Geräten. Gearbeitet wird häufig ohne irgendwelche Schutzausrüstung. Regelmässiger Kontakt mit diesen Chemikalien erhöht das Risiko, langsam fortschreitende, aber tödliche Krankheiten zu entwickeln, die sich erst viele Jahre danach zeigen können.»

Wie in anderen Problembranchen auch, werden die menschlichen und ökologischen Kosten dieser Praktiken von der Schiffsindustrie vollständig externalisiert. Entsprechend deutlich wird Tuncak bei der Frage der Verantwortung für diese Missstände: «Das ist ein unerhörtes Beispiel für eine Industrie, die die negativen Folgen einfach auf ihre Arbeiter und deren Gemeinschaften in den Entwicklungsländern abwälzt.»

Zum Sterben nach Südasien gebrachte Container- und andere Frachtschiffe werden also zum Symbol der Auswüchse einer rein profitorientierten Globalisierung.

- HINTERGRUND -
Das Gesetz schwächen und umgehen

In den späten 1980er-Jahren kam es im Zusammenhang mit der Entsorgung gefährlicher Abfälle zu zahlreichen Skandalen. Als Reaktion darauf verabschiedete das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) 1992 die «Basler Konvention zur Kontrolle des grenzüberschreitenden Transports gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung». Dieses Übereinkommen, das durch die europäische Abfallverbringungsverordnung in EU-Recht umgesetzt wurde, regelt den internationalen Handel mit gefährlichen Abfällen. Da ein für den Abbruch ausgesondertes Schiff in der Regel giftige Stoffe enthält und deshalb als gefährlicher Abfall eingestuft wird, ist diese Verordnung auch für die Schiffsabwrackung relevant. Die von 187 Ländern ratifizierte Basler Konvention ist bis heute die einzig gültige internationale Gesetzgebung, die Entwicklungsländer vor dem Deponieren von giftigen Schiffswracks schützen könnte. Mit der profitableren Abwrackung an südasiatischen Stränden nutzt die Schifffahrtsindustrie die Schlupflöcher im Basler Regime: Da ein Schiff formell erst dann als Abfall betrachtet wird, wenn die Entsorgungsabsicht offensichtlich ist, reicht es, wenn die Reeder diese Absicht vor den Behörden des Ausfuhrstaats verbergen – also vor jenem Staat, von dem aus das Schiff zu seiner letzten Reise in See sticht.

Als die Vertragsstaaten der Basler Konvention begannen, effektivere Methoden zur Regulierung des Handels mit toxischen Schiffen zu diskutieren (z. B. die Festlegung der Verantwortung der Länder, in denen die Reedereien ihren Sitz haben), beschloss die Internationale Schifffahrtsorganisation (IMO) als spezialisierte UNO-Agentur, eine neue rechtsverbindliche Vereinbarung speziell zum Schiffsrecycling auszuarbeiten, deren Grundlage stattdessen die Verantwortung der Flaggenstaaten sein soll. Die daraus resultierende Hongkonger Konvention (HKC) über das sichere und umweltgerechte Recycling von Schiffen wird wohl erst in vielen Jahren in Kraft treten, da sie bisher nur von sechs Ländern ratifiziert wurde. Die niedrigen Standards der HKC würden die schmutzigen und gefährlichen Praktiken an südasiatischen Stränden faktisch absegnen, kritisieren der UN-Sonderberichterstatter für Giftmüll, die Zivilgesellschaft und die Politik in Europa und Entwicklungsländern. Um die aktuellen Gesetzeslücken wenigstens auf europäischer Ebene zu schliessen, wurde kürzlich eine neue Verordnung über das Schiffsrecycling verabschiedet. Ab dem 31. Dezember 2018 dürfen demnach Schiffe unter EU-Flagge nur noch in Werften abgewrackt werden, die in einem speziellen europäischen Register aufgenommen wurden. Die EU-Verordnung setzt auch sonst deutlich strengere Standards als die HKC: Sie verbietet das umstrittene «Beaching» (Abwracken am Strand) und enthält Anforderungen zur fachgerechten Entsorgung toxischer Abfälle sowie zum Schutz der Arbeitsrechte.

Heuchlerisches Europa

Ökodesaster wegen «Schwerkraftmethode»

Doch zurück nach Alang. Im Juni 2016 veröffentlichte die EU-Generaldirektion für Umwelt einen Überblick mehrerer Untersuchungen, von denen eine deutlich machte, wie stark die Natur um das ehemalige Fischerdorf durch Kupfer, Kobalt, Mangan, Blei, Cadmium, Nickel, Zink und Quecksilber verseucht ist.

Die Behörde verweist auch auf eine Studie von 2001, die ergab, dass der Quecksilbergehalt in Alang um 15 500 Prozent höher ist als an einer Kontrollstelle. Bei benzinartigen Kohlenwasserstoffen lagen die Werte sogar 16 973 Prozent höher. Das Forschungsteam fand auch sehr starke bakterielle Belastungen.

Ein Teil der Verschmutzung steht in direktem Zusammenhang mit dem, was branchenintern «Schwerkraftmethode» genannt wird: Herausgetrennte Stahlteile des zerlegten Schiffsrumpfs krachen ungebremst und unkontrolliert auf den Strand.

Die Wucht der fallenden Stahltonnen in Verbindung mit den extrem heissen Gasflammen führen dazu, dass oft giftige Farbanstriche ins Meer laufen oder in den Boden dringen.

Da die Schiffe bei Ebbe zerstückelt werden, landen auch all jene Ölrückstände, Schwermetalle und andere toxischen Substanzen, die vor der Flut nicht entfernt werden, im Meer und verseuchen die gesamte maritime Umwelt.

«Europa ist heuchlerisch»

Viele der Gespräche, die wir mit Werftbesitzern führen, enden im gleichen Kehrreim: «Die Abwrackwerften von Alang sind auf dem besten Weg, grün zu werden, doch den europäischen Firmen fehlt es an ernsthaftem Engagement bei der Umsetzung ihrer eigenen Ansprüche.» Nithin Kanakiya, Eigentümer der Triveni- Werft in Alang und Sekretär des lokalen Verbands der Schiffs-Recycling-Industrie (SRIA), ist noch unmissverständlicher:

«Europa verhält sich heuchlerisch. Einerseits verlangen die Firmen in Bezug auf Gehälter, Versicherungen, Sicherheit und Umweltschutz das Unmögliche, doch auf der anderen Seite sind sie nur an Gewinnmaximierung interessiert und spielen dafür kostenmässig eine Werft gegen die andere aus.»

Wir fragten Sharma, den Chef des Leela-Konzerns, ob er die grossen Reedereien um Unterstützung gebeten hat. «Als wir realisierten, dass auch die Branchenleader nur am Profit interessiert sind, wurde es für uns unmöglich, weiter Geschäfte mit ihnen zu machen. Leela will in sozialer und ökologischer Hinsicht besser sein als die Konkurrenz, doch das hat seinen Preis. Deshalb sollten die europäischen Reeder ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Und zwar indem sie die notwendigen Investitionen tätigen, niedrigere Ankaufspreise für ihre Schiffe akzeptieren oder längerfristig mit RecyclingUnternehmen zusammenarbeiten. Stattdessen wird die ganze Verantwortung einfach auf uns abgewälzt.»

Wenn Leela als eine der besseren Werften in Alang gilt, sollte man sich freilich daran erinnern, dass und wie Ravindra Chaudari dort am Sonntag, dem 15. April 2018 bei Wartungsarbeiten umgekommen ist: Eine schon halb aus dem Rumpf der Pata Glory herausgeschnittene Stahlplatte löste sich plötzlich und erschlug den Arbeiter. Gemäss der «Times of India» führte der Unfall zu Protesten der Werftarbeiter, bei denen einige Leela-Büros verwüstet wurden.

Hochseenation Schweiz

Ein Schweizer Tanker in der Hölle von Chittagong

Viele Schiffe werden auch in Chittagong, Bangladesch, verschrottet, wo die Arbeits- und Umweltbedingungen noch übler sind als in Alang. Mohamed Ali Shahin, der sich für «Young People in Action» (YPSA) intensiv mit diesen Problemen beschäftigt, erzählt uns am Telefon, dass ein Arbeiter am 10. November auf der «SH Enterprise »-Werft beim Abwracken der ukrainischen MV Velda ums Leben kam. Am Tag davor starb ein Arbeiter, als er die indische Peri auf der «Golden Iron Works» zerlegte. Anfang Jahr schon starben zwei Angestellte der «Zuma Enterprise»-Werft: Mohamad Khalil (40) am 31. März und Shatikul Islam (28) am 24. April. Beide arbeiteten an der MT EKTA, einem Öltanker, der laut Schiffsdatenbanken von der Schweizer Reederei Navimar an die Abwrackwerft verkauft wurde. Betrieben wurde die MT EKTA von Maran Tankers, einer Tochtergesellschaft der griechischen Anangel Shipping Group. Navimar hatte das Schiff im September 2017 gekauft, also nur einen Monat bevor es in Chittagong gestrandet wurde.

Was beweist, dass die Schweizer Firma eine blosse (und vermutlich lukrative) Vermittlerfunktion hatte bei diesem Deal, der also eine primär finanzielle Transaktion war. Zuma Enterprise verfügt über kein Sicherheitsdispositiv, hält sich an keine internationalen Umweltstandards und betreibt keinerlei Abfallmanagement.

«Warum schickt ein Schweizer Unternehmen sein Schiff zum Zerlegen und für das Recycling ausgerechnet in eine der schlimmsten Werften von Chittagong?»

fragt Ali Shahin. Zuma sei nicht nur gefährlich, sondern auch geizig. «Sie zahlen der Familie eines Arbeiters, der bei einem Betriebsunfall ums Leben kommt, gerademal das gesetzliche Minimum von 100 000 Taka (ca. 1100 Franken). Andere Werften würden einen so tragischen Verlust mit 500 000 Taka kompensieren», so Shahin.

- HINTERGRUND -
Flaggenwechsel als Geschäftsmodell

Um Gewinne zu optimieren, Verantwortung zu vermeiden und gesetzliche Schlupflöcher zu nutzen, segelt die globalisierte Schifffahrtsindustrie unter sogenannten Billigflaggen oder «flags of convenience» (FoC): Reeder können ihre Schiffe unter der Flagge von Ländern registrieren, die nichts mit ihnen oder ihren Unternehmen zu tun haben. Das FoC-Phänomen hat ein System geschaffen, bei dem Staaten um Schiffe konkurrieren. Viele Länder bieten solch kostengünstige Registrierungen an, mit wenig gesetzlicher Kontrolle und reduzierten Steuersätzen.

Rund 75 Prozent aller Schiffe sind schon während ihres regulären Betriebs unter solchen Billigflaggen registriert. Gegen Ende ihrer Lebensdauer und speziell für die letzte Reise nach Südasien werden noch weit mehr Schiffe aus den Registern verantwortungsvoller Staaten gestrichen. Die meisten Reeder entscheiden sich für jene «End-of-life »- Billigflaggen, die am wenigsten Kontrolle und dafür am meisten Rabatte für die letzte Fahrt anbieten. Das sind etwa die Register von Tuvalu, den Komoren, Palau oder St. Kitts und Nevis – Flaggen, die seit Langem bekannt sind für ihre mangelhafte Anwendung und Durchsetzung internationaler Rechtsvorschriften. Für UN-Sonderberichterstatter Tuncak ist diese Fahnenflucht denn auch der eigentliche Grund, warum sich die Abwrackindustrie schwer regulieren und existierende Vorschriften kaum durchsetzen lassen: «Solange es den Reedereien erlaubt ist, frei zu wählen, unter welcher Flagge sie fahren und damit, an welche Regeln sie sich halten wollen, werden sich die grossen und kleinen Akteure weiterhin ihrer Verantwortung entziehen.»

Trauriges Rekordjahr mit 19 Toten

Shahin meint, die Regierung müsse zwar mehr tun, um alles sauberer und sicherer zu machen, aber die Verantwortung liege nicht nur bei Bangladesch: «Europäische Reeder könnten so viel mehr tun, um sichere und saubere Methoden der Schiffsentsorgung zu verlangen und zu unterstützen. Sie sollten europäische Normen durchsetzen und etwa in Abfallsammelstellen investieren. Und natürlich könnten sie schon mal damit beginnen, ihre Schiffe von sämtlichen Giftstoffen zu befreien, bevor sie sie an unsere Strände zum Verschrotten schicken.»

Wie in Alang, so sind auch in Chittagong viele der Abwracker landesinterne Migranten, die in unhygienischen Unterkünften hausen. Sie schuften lange Tage und haben in der Regel auch keine Arbeitsverträge. Auch weil die Werften jegliche Gewerkschaftsaktivität im Keim ersticken. Allein im Jahr 2017 wurden dort mindestens 17 Menschen durch Unfälle getötet, weitere 22 erlitten schwere Verletzungen.

Vorläufige Zahlen für 2018 zeigen, dass letztes Jahr mindestens 19 Arbeiter ihr Leben verloren haben, die höchste Zahl seit 2009. Die Mehrheit der Todesfälle wurde durch Brände, Stürze aus grosser Höhe und herabfallende Schiffsteile verursacht.

Schweizer Beitrag zur globalen Müllkippe

Die Schweiz hat zwar keinen Meerzugang, ist aber trotzdem eine bedeutende Schifffahrtsnation und beherbergt eine Reihe von Reedereien. Die zumindest unter Kreuzfahrt-Fans bekannteste ist die Mediterranean Shipping Company. MSC unterhält auch die zweitgrösste Containerflotte der Welt. Von den anderen Schweizer Schiffsgesellschaften, von denen die meisten, wie MSC, am Genfersee residieren, hat man hingegen bislang kaum je gehört. Noch unbekannter ist allerdings die Tatsache, dass auch sie ihre Altschiffe zumeist an den südasiatischen Stränden entsorgen.

Nach unserer auf verschiedenen Datenquellen basierenden Schätzung landeten seit 2009 etwa 90 Schweizer Schiffe in den Recycling-Höllen von Bangladesch, Indien und Pakistan.

Die Namen der betroffenen Unternehmen sind zwar dokumentiert, bislang aber nur Brancheninsidern bekannt: Atlanship SA, Doris Maritime Services SA, FleetPro Passenger Ship Management AG, Lumar SA, MSC Mediterranean Shipping Co, Sallaum Group SA, Shipfin SA, Sider Navi SpA, Taunus Shipping SA.

Gemäss der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) liegt die Schweiz bei den Schiffseignern weltweit an zwanzigster Stelle. Bei den an südasiatischen Stränden verschrotteten Schiffen rangiert sie laut Angaben der Shipbreaking Platform sogar auf dem 15. Platz. Nach den Informationen der von Brüssel aus operierenden NGO enden fast alle Schweizer Schiffe in Alang, Chittagong & Co. Damit gehört das Alpenland zu den Top Ten der globalen Müllkipper an den Stränden Südasiens.

Branchenprimus MSC

MSC liess fast alle seine Schiffe «beachen»

Von den 90 Schweizer Schiffen, die in den letzten zehn Jahren an südasiatischen Stränden verschrottet wurden, gehörten sagenhafte 80 dem Branchengiganten MSC. Die Genfer Reederei mit einem Umsatz von 30 Milliarden Franken (2017) ist ein diskretes Familienunternehmen, das von Mitgründer Gianluigi Aponte, einem italienischen Staatsbürger, geleitet wird und keine Zahlen veröffentlichen muss. Im Jahr 2009 erhielt Aponte vom damaligen Premierminister Silvio Berlusconi die Auszeichnung «Neapolitan Excellence of the World» und vier Jahre später von Staatspräsident Giorgio Napolitano den «Cavaliere del Lavoro» (Ritter der Arbeit). Um für diesen Ehrentitel in Betracht zu kommen, müssen die Kandidaten über eine makellose Bilanz an sozialen Leistungen verfügen, alle Steuergesetze beachtet und dem Arbeitnehmerschutz besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Im Oktober 2018 wurde MSC beim «Green Shipping Summit» in Amsterdam zudem als umweltfreundlichste Reederei des Jahres ausgezeichnet. «MSC wurde für seine Förderung der nachhaltigen Nutzung mariner Ressourcen und Investitionen in grüne Technologien geehrt», schreibt das Unternehmen auf seiner Website.

Eine Reederei, die laut ihrem Chief Sustainability Officer «die nachhaltigste, technologisch fortschrittlichste und kundenorientierteste Reederei der Branche werden will» und ihre ausgemusterten Schiffe zugleich an lebensgefährliche Strände schickt, hat einigen Erklärungsbedarf. Also haben wir MSC zwei Wochen nach ihrer «Greenest Ship Owner»-Ehrung schriftlich gebeten, uns «über die von MSC zum Abwracken verkauften Altschiffe und die internen Kriterien bei der Wahl der Werften» zu informieren. Die Antwort aus Genf war kurz und bündig. «Vielen Dank für Ihr Interesse an der Umweltstrategie von MSC. Wir lehnen es aber ab, an Ihrer Untersuchung teilzunehmen.»

Viele Versprechungen, keine Antwort

Im Nachhaltigkeitsbericht von MSC wird der Schiffsentsorgung nur ein kurzer Absatz gewidmet: «Unsere Recyclingpraxis ist ein wichtiger Schwerpunkt für MSC, da sie eng mit Arbeitsstandards, Umweltschutz und Menschenrechten verbunden ist. [...] Nur Werften, welche die Normen IMO HKC (siehe Box 3), ISO 14001 (Umwelt), ISO 30001 (Recycling-Management) und OSHAS 18001 (Gesundheit und Sicherheit) erfüllen, werden am Ende der Nutzungsdauer eines Schiffs zum Recycling ausgewählt.» Besonders bemerkenswert in diesem Kriterienkatalog ist die ISO-Norm 30001, da ein solcher Standard gar nicht existiert. Vielleicht ist das ja symptomatisch für die ganze Nachhaltigkeit ihrer Verschrottungspraxis.

Wir wollten wissen, ob MSC bestätigen kann, dass ihre in Alang ausgewählten Werften all diese Anforderungen erfüllen. Für ein Unternehmen, das sich seiner sozialen Verantwortung rühmt, war auch diese Rückmeldung enttäuschend. «Wir bestätigen hiermit, dass wir Ihre Anfrage nicht beantworten können.»

Bankrotterklärung der Hongkonger Konvention

Am Strand von Alang treffen – wenn auch zeitversetzt – die Geschäftspraktiken von MSC auf das Schicksal von Bhuddabhai. So fing dort schon die MSC Jessica am 4. August 2009 bei ihrer Zerlegung Feuer, was sechs Arbeiter das Leben kostete. Im Jahr 2017, rund elf Monate bevor Bhuddabhai gleichenorts starb, wurde dann auf der «Honey»-Werft die MSC Alice verschrottet.

Die Zertifizierungen dieses Schiffsentsorgers deuten zwar an, dass dieser Betrieb noch einer der besseren in Alang ist. Der Unfall vom 31. August 2018, bei dem zwei Arbeiter beim Abwracken eines Kreuzfahrtschiffs starben, zeigt jedoch, dass solche privat ausgestellten Zertifikate, die sich an den schwachen Standards der Hongkonger Konvention orientieren, die Arbeiter nicht einmal vor den fatalsten Gefahren dieser Industrie schützen.

Investigative Recherchen zum Jubiläum

Die Aufdeckung verborgener Fakten kann die Welt verändern: Aus dieser Überzeugung hat sich Public Eye dazu entschlossen, zu ihrem 50. Geburtstag einen «Investigation Award» zu schaffen. Dieser Preis für investigative Recherchen soll die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sowie von NGOs unterstützen, die das Treiben von Schweizer Unternehmen in benachteiligten Ländern und dessen Folgen untersuchen.

Eine aus renommierten Medienschaffenden und Mitarbeitenden von Public Eye bestehende Jury wählte aus den 55 eingegangenen Projekten zwei aus, die schliesslich mit einem Crowdfunding finanziert wurden. 325 Personen machten mit und finanzierten damit diese Recherche von Gie Goris und Nicola Mulinaris. Ausserdem ermöglichten sie es Marie Maurisse, den Geheimrezepten Schweizer Tabakmultis auf den Grund zu gehen ("Heisse Luft und schwarzer Rauch"). Herzlichen Dank dafür!

Sie wollen weitere spannende Reportagen lesen und über die Arbeit von Public Eye auf dem Laufenden bleiben? Dann bestellen Sie unser kostenloses Probeabo oder abonnieren Sie unseren Newsletter.

Text: Gie Goris (MO* magazine) und Nicola Mulinaris (NGO Shipbreaking Platform)
Redaktion: Oliver Classen und Alice Kohli, Public Eye
Fotos: Tomaso Clavarino, Amit Dave, Studio Fasching, Pradeep Shukla, GMB Akash/Panos, Shiho Fukada/Panos, Brendan Corr/Panos, Gie Goris
Online-Umsetzung: Melanie Nobs, Public Eye