Auf den Spuren eines Kapuzenpullovers
Zaras Mutterkonzern Inditex stellt sich als äusserst transparent dar – und behauptet, die Interessen der Menschen, die seine Kleider herstellen, hätten für ihn oberste Priorität. Stimmt das? Wir haben uns auf die Spur eines Kapuzenpullovers gemacht – und liessen nicht locker, bis wir die türkischen Fabriken gefunden hatten, in denen er hergestellt wurde. Unsere Erkenntnis: Selbst bei Zaras «Join Life»-Linie, die besonders nachhaltig sein soll, ist der Preisdruck auf die Produzenten so immens, dass schlussendlich jene am teuersten für den Gewinn von Inditex bezahlen, die diesen erst möglich machen: die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken.
1 597 260 495
So viele Kleidungsstücke hat der spanische Modegigant Inditex gemäss eigenen Angaben im Jahr 2018 verkauft. Zara, die mit Abstand wichtigste Marke des Konzerns, ist eine gut geölte Maschine: Zweimal wöchentlich werden die Läden beliefert, monatlich wechselt das Sortiment, wer nicht im richtigen Moment im Laden ist oder online geht, verpasst den neuesten Trend. Im vergangenen Jahr war die Marke Zara für über 70 Prozent der Inditex-Verkäufe verantwortlich, die sich gesamthaft auf 26 Milliarden Euro beliefen. Der Reingewinn von Inditex im Jahr 2018: knapp dreieinhalb Milliarden Euro – mehr als irgendein anderer Modekonzern erwirtschaftet hat. Nicht, dass Inditex-Gründer und Haupteigentümer Amancio Ortega dieses Geld dringend nötig hätte: Mit einem Vermögen von über 69 Milliarden Schweizer Franken ist er gemäss dem Wirtschaftsmagazin Forbes derzeit der sechstreichste Mensch der Welt.
Angesichts der nicht exorbitant hohen Ladenpreise von Zara-Kleidern einerseits und des massiven Gewinns des Mutterkonzerns andererseits stellt sich zwangsläufig die Frage: Was bleibt für die Menschen übrig, die diese Kleider herstellen? Das wollen wir herausfinden. Als erstes werfen wir einen Blick in den neuesten Jahresbericht von Inditex. «Qualität, Rückverfolgbarkeit und Nachhaltigkeit sind die Schlüsselbegriffe unseres Modells», postuliert Pablo Isla, der Vorstandsvorsitzende, auf der sechsten von insgesamt 434 Seiten dieses imposanten Werks. «Wir sind fest davon überzeugt, dass unser Modell nur dann funktioniert, wenn es nachhaltig ist», schreibt er weiter. Deshalb stelle man die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Lieferkette «in den Mittelpunkt, um Initiativen für sozialen Fortschritt zu fördern». Das Kapitel «Workers at the Centre» alleine nimmt im Jahresbericht 32 Seiten ein. Die Worte «transparent» und «Transparenz» tauchen in diesem umfassenden Werk zusammen insgesamt 71 Mal auf.
«Respect» – was heisst das?
Wir entschliessen uns, die Probe aufs Exempel zu machen: Wir wollen ein klassisches Kleidungsstück erwerben und dann so viel wie möglich darüber herausfinden, wo und unter welchen Bedingungen dieses hergestellt wurde. Wir entscheiden uns für einen schwarzen Damen-Kapuzenpullover, der uns vom Slogan her ganz passend scheint:
R-E-S-P-E-C-T steht in Grossbuchstaben darauf geschrieben – der Titel des Songs, der durch die US-amerikanische Soulikone Aretha Franklin im Jahr 1967 Weltruhm erlangte. Darunter steht ein Satz aus dem Refrain des Lieds: «Find out what it means to me». Genau das wollen wir tun: Herausfinden, was es für die Menschen in der Wertschöpfungskette bedeutet, diesen Pullover herzustellen. Werden ihre Rechte respektiert?
Der Hoodie gehört zu Zaras «Join Life»-Linie, der Vorzeigelinie von Inditex in Sachen Nachhaltigkeit. Diese Produkte werden gemäss dem Unternehmen «mit den nachhaltigsten Rohstoffen und / oder durch besonders effiziente Produktionstechnologie» hergestellt, und zwar von Fabriken, die sowohl in Audits zu den Sozialstandards wie bei Umweltassessments mit den Bestnoten A oder B abgeschlossen haben – also entweder in voller Übereinstimmung mit dem Inditex-Verhaltenskodex für Hersteller und Zulieferer wirtschaften oder höchstens gewisse «minor aspects», also «Nebensächlichkeiten», missachten.
Ringen mit dem Kundendienst
Anfang Mai bestellen wir den Hoodie im Schweizer Onlineshop von Zara, für 45 Franken und 90 Rappen. «Made in Turkey, 84% Baumwolle, 16% Polyester» lesen wir auf der Etikette. Dass der Pullover in der Türkei hergestellt wurde, überrascht uns nicht. Das Erfolgsmodell von Zara beruht ganz wesentlich darauf, rascher auf Trends reagieren zu können als die Konkurrenz. Zara schafft es, ein Kleidungsstück innert drei bis vier Wochen vom Computer einer Designerin oder eines Designers in die Läden zu bringen. Das ist nur möglich, wenn nicht allzu weit entfernt von der Verteilungszentrale im spanischen Saragossa und den wichtigen europäischen Absatzmärkten produziert wird. Gemäss Inditex stehen über die Hälfte der insgesamt 7235 Zulieferfirmen des Konzerns in Spanien, Portugal, Marokko oder der Türkei.
Anfang Mai bestellen wir den Hoodie im Schweizer Onlineshop von Zara, für 45 Franken und 90 Rappen. «Made in Turkey, 84% Baumwolle, 16% Polyester» lesen wir auf der Etikette.
In der Türkei allein arbeitet über eine Viertelmillion Menschen in Betrieben, die für Inditex herstellen. Wir schreiben eine Mail an den Kundendienst von Zara. Immerhin behauptet Inditex in seinem Jahresbericht, er gebe – wann immer er danach gefragt werde – Auskunft «über die Herkunft unserer Artikel sowie über die Bedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die in deren Produktion involviert sind». Am 18. Mai schreiben wir also, wir würden gerne wissen, in welcher Fabrik dieser Pullover genau hergestellt wurde, was man uns zu den dortigen Arbeitsbedingungen sagen könne, woher die Baumwolle komme und was es genau bedeute, dass diese «organisch angebaut» worden sei? Die Anfrage sei an die zuständige Stelle weitergeleitet worden, teilt man uns gleichentags mit.
Zehn Tage später fragen wir freundlich nach. Das Anliegen werde derzeit «von der zuständigen Abteilung bearbeitet und überprüft», heisst es. «Kommt da noch was?», fragen wir nochmals neun Tage später. Es kommt nichts. Sechs Wochen nach unserer ersten Anfrage schreibt uns der Kundendienst, er warte weiterhin auf eine Rückmeldung, und nochmals zwei Wochen später: «Wir werden Ihre Anfrage in der entsprechenden Fachabteilung prüfen.»
Erste Infos nach zehn Wochen
So wäre das wohl noch eine Zeit lang weitergegangen, hätte sich nicht Ende Juli das französische Recherchebüro Le Basic ebenfalls an den Zara-Kundendienst gewandt. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen der internationalen Clean Clothes Campaign, dem Collectif Éthique sur l’étiquette aus Frankreich und der niederländischen Schone Kleren Campagne, hatten wir Le Basic beauftragt, eine Modellrechnung der Preisstruktur dieses Pullovers aufzustellen (siehe auch «Die Berechnung» am Artikelende). So erhält Zara nun aus Paris fast die gleichen Fragen wie aus Zürich, zu genau dem gleichen Produkt. Und siehe da: Am 30. Juli kommt bei Le Basic und bei uns innert weniger Minuten die wortwörtlich gleiche Antwort rein, in zwei verschiedenen Sprachen. Der Inhalt ist dürftig: Die Baumwolle sei zu hundert Prozent biologisch hergestellt, der Baumwollfaden stamme aus der Türkei und sei nach dem Global Organic Textile Standard (GOTS) zertifiziert, schreibt Zara. Zu den Fabriken, den Arbeitsbedingungen – dazu schweigt der Konzern weiterhin.
Zeit, sich mit einer Reihe ganz konkreter Fragen an den «Chief Sustainability Officer» oder kurz CSO von Inditex zu wenden, den Mann also, der dort für Nachhaltigkeit verantwortlich ist. Kommt die Baumwolle ursprünglich aus der Türkei? In welcher Fabrik wurde der Faden gesponnen, der Stoff gestrickt, der Pullover genäht? Was verdienen die Arbeiterinnen und Arbeiter dort? Und welchen Preis hat Zara dem Zulieferer für das Kleidungsstück ab Fabrik bezahlt?
«So sorry»
Mitte August, nach erneuter Nachfrage, erreicht uns schliesslich tatsächlich ein Lebenszeichen vom Inditex-Nachhaltigkeitschef. Er sei «so sorry», dass er nicht früher geantwortet habe, schreibt er. Er werde umgehend intern abklären, was da schiefgelaufen sei, denn es sei «total unüblich», dass solche Anfragen nicht beantwortet würden. Er werde uns die verlangten Informationen so rasch wie möglich liefern. Jaja, denken wir uns, und erwarten nichts.
Eine Woche später die Überraschung: In einem Mail teilt uns der CSO tatsächlich die Namen der Unternehmen mit, die die Baumwolle (in Indien) entkernt und (in der Türkei) zu Faden verarbeitet haben. Auch die Namen der drei Fabriken, die den Stoff gewoben, die Teile für den Pullover zugeschnitten und zusammengenäht und diesen schliesslich mit «Respect» bedruckt haben, nennt er uns – wenn auch ohne anzugeben, wo in der Türkei diese stehen. Bedenkt man, dass sich Inditex im Gegensatz zu Konkurrenten wie H&M, C&A oder Nike bis heute standhaft weigert, eine Liste seiner Zulieferbetriebe zu veröffentlichen, kommt dieses Mail geradezu einer Transparenzoffensive gleich.
Klar, bei den Fragen, die etwas schmerzen könnten, wird der CSO dann doch flugs wieder höchst unkonkret. Darauf etwa, wie hoch die Löhne seien, die in der Produktionskette bezahlt würden. Alle in die Produktion involvierten Firmen würden von Inditex regelmässig überprüft, schreibt er lediglich, keine habe sich bei der Bezahlung der Löhne etwas zu Schulden kommen lassen. Und auf die Frage nach dem Preis, den Zara für diesen Pullover bezahlt habe, wird er noch allgemeiner: Dieser reiche aus, «um alle Schritte in der Produktion abzudecken, vom Rohmaterial bis zur Endfertigung». Nur, zu welchen Bedingungen? Das wollen wir vor Ort herausfinden. Auf unsere Bitte, uns die exakten Adressen der Produktionsfirmen anzugeben, reagiert der Nachhaltigkeitschef nicht mehr. Unsere Nachforschungen zeigen, dass sich alle drei Fabriken, die an der eigentlichen Produktion des Hoodies beteiligt waren – von der Stoffherstellung übers Zuschneiden und Nähen bis zum Druck – ziemlich sicher in der westtürkischen Hafenstadt Izmir befinden.
Der Preis reiche aus, «um alle Schritte in der Produktion abzudecken», schreibt Inditex. Nur, zu welchen Bedingungen? Das wollen wir vor Ort herausfinden. Also ab in die Türkei.
Der mächtige Zwischenhändler
Drei Tage lang sind wir in der drittgrössten türkischen Stadt unterwegs. Wir finden heraus: Der Kapuzenpullover wurde tatsächlich in den drei Fabriken, die Inditex angegeben hat, hergestellt. Aber es gibt noch eine weitere Firma, die eine höchst zentrale Rolle spielt – und die Inditex uns gegenüber nicht erwähnt hat. Sie heisst Spot Tekstil und hat ihren Sitz in einem von schwarzen Gittern umzäunten, weissen Prachtbau mit blau verspiegelten Fenstern in der «Industriezone Atatürk» im Nordwesten des Stadtzentrums.
Ihr Besitzer ist ein mächtiger Mann: Unter anderem ist er Vorsitzender der Exportvereinigung «Aegean Textile and Raw Materials Exporters Association». Seine Firma gibt sich in ihrem Internetauftritt als Produzentin von Kleidungsstücken aus, doch in diesem Fall stellt sie selbst gar nichts her. Vielmehr fungiert sie als Agentur für Inditex und vergibt ihrerseits Aufträge an einzelne Fabriken.
Das Business der Firma, die 2011 in Barcelona ein Tochterunternehmen gegründet hat, scheint zu florieren: 2017 wies Spot Tekstil einen Umsatz von 66 Millionen Franken aus. «Die tragen selbst nichts zur Produktion bei, aber verdienen an jedem Kleidungsstück ein bis zwei Euro», beklagt sich ein Mitglied des Managements von einer der Herstellerfabriken. Es wären ein bis zwei Euro, die die Arbeitenden, die den Hoodie fertigen, bestens gebrauchen könnten.
Ein «aggressives Pricing»
Unsere Recherche vor Ort zeigt: Der Preisdruck, den Zara – auch über seinen Partner Spot – erzeugt, hat eine ganze Reihe von Konsequenzen auf jene, die gemäss dem Unternehmen «im Mittelpunkt» stehen sollten – die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken. Die Macht, den Preis drücken zu können, entsteht schon nur aufgrund des Volumens, das eine Modekette wie Inditex in Auftrag geben kann. Das erfahren wir bei der nächsten Station unserer Erkundungstour – beim Unternehmen, das laut Inditex den Stoff für unseren Hoodie gestrickt hat. Der pompöse Firmensitz liegt nur wenige Gehminuten vom Spot-Palast entfernt und sieht fast exakt gleich aus: verspiegelte Glasfassade, weiss getünchte Wände, gesichert mit einem hohen schwarzen Gitter.
Als wir mit unserem Kapuzenpullover in der Hand vorsprechen, bitten uns zwei Männer aus der Marketingabteilung freundlich in einen Konferenzraum. Inditex und H&M, erzählen sie uns, seien ihre beiden grössten Auftraggeber. Die Aufträge der Modegiganten bewegten sich in der Regel zwischen einer und 200 Tonnen eines bestimmten Stoffs. Solche Volumina seien natürlich für seine Fabrik attraktiv, sagt uns einer der beiden Manager, «man muss die Maschinen am Laufen halten». Aber klar, diese Menge erlaube es Inditex auch, ein «aggressives Pricing» zu betreiben. Firmen wie Inditex holten stets mehrere Offerten ein, in denen die Kostenanteile von jedem Bestandteil exakt aufgeschlüsselt seien – vom Kaufpreis des Stoffs über die Kosten fürs Färben bis zu jenen für Reissverschlüsse oder Knöpfe. Und dann bestimmten sie, wie viel Gewinnmarge sie für die einzelnen Schritte in der Produktion zu bezahlen bereit sind. Was wir zwischen den Zeilen heraushören: Nicht sie als Anbieter bestimmen den Preis, sondern die Abnehmer. Aber es gebe nichts, worüber sie sich beklagen könnten, betonen sie, «am Schluss müssen alle zufrieden sein. Und in der Regel sind alle zufrieden». Auch die Arbeiterinnen und Arbeiter, die den Stoff stricken und färben? Es gebe grosse Konkurrenz hier, sagt einer der Manager, «wenn sie mit ihrem Lohn nicht zufrieden sind, können sie morgen woanders anfangen». Mit Arbeiterinnen oder Arbeitern des Betriebs sprechen können wir nicht. Es sei schwierig, mit diesen in Kontakt zu treten, sagt uns ein hochrangiger Gewerkschafter aus Izmir.
Angst vor Auftragsentzug
Mit über sechshundert Mitarbeitenden, einer Strickkapazität von 900 Tonnen im Monat und einem Umsatz von über 50 Millionen Franken im Jahr 2014 ist der Stoffhersteller in Izmir selbst ein Schwergewicht. Im Notfall könnte er auf Aufträge von Inditex auch verzichten. «Wenn es sich für uns nicht rechnet, machen wir es nicht», sagt der Jüngere der beiden Manager selbstbewusst. Ganz anders sieht das bei den beiden anderen Fabriken aus – jener, in der die Teile für den Pullover zugeschnitten und vernäht wurden und jener, in der er bedruckt wurde. Über deren Umsätze erfährt man in den einschlägigen Firmendatenbanken nichts, und sie verfügen über keine weiss getünchten Firmensitze. Es sind zwei einfache Fabriken, die eine ausgestattet mit Textildruck-, die andere mit Nähmaschinen. Beide suchen wir auf, sprechen mit Leuten, die sich mit den Verhältnissen bestens auskennen. Manche loben Inditex und Spot über den Klee. Andere klagen über die viel zu tiefen Preise, die diese bezahlen würden – um sich gleich darauf zu versichern, dass ihre Aussagen nicht direkt zitiert würden. Das vorherrschende Gefühl scheint Angst zu sein.
Das vorherrschende Gefühl scheint Angst davor zu sein, dass Inditex oder der Zwischenhändler Spot mit Sanktionen reagieren könnten – oder deren Aufträge gleich ganz ausbleiben würden.
Angst davor, dass Inditex oder der Zwischenhändler Spot mit Sanktionen reagieren könnten – oder deren Aufträge gleich ganz ausbleiben würden. Das wäre ein Desaster. In der Fabrik, in der der Stoff bedruckt wurde, bedienen die Arbeiter und Arbeiterinnen Maschinen, die Spot vorfinanziert habe, wie man uns erzählt. Kleider für Inditex machten über die Hälfte des Produktionsvolumens aus. Gar noch stärker scheint die Abhängigkeit der Fabrik zu sein, in der der Pullover zugeschnitten, genäht, mit dem Label versehen und verpackt wurde. Die Firma stelle praktisch nur Kleider für Inditex her, erfahren wir.
Massiver Kostendruck
Diese Konstellation erschwert es uns, zu berichten, was wir über die Realitäten in diesen Fabriken erfahren haben. Denn auch die Option, Aussagen in anonymisierter Form zu zitieren, fällt in diesem Fall weg. Schliesslich war es der Konzern Inditex selbst, der uns die Namen der Zulieferer genannt hat. Das heisst: Sobald wir davon erzählen, welche konkreten Kritikpunkte uns gegenüber genannt wurden, wüsste Inditex sofort, von wem diese stammen. Uns bleibt deshalb wenig anderes übrig, als in allgemeiner Form darüber zu berichten, was wir in den beiden Fabriken erfahren haben. In Bezug auf den massiven Kostendruck etwa. Gemäss unseren Informationen erhielt die Druckerei pro Druck offenbar keine zehn Rappen. Und die Fabrik, in der die gut 20 000 «Respect»-Pullover hergestellt wurden, bekam gerade einmal neun türkische Lira pro Stück. Das waren im Jahresmittel 2018 ein Franken und 77 Rappen».
Angesichts dieser Beträge mutet es fast zynisch an, was Inditex als einen weiteren Schwerpunkt in ihrem «Workers at the Centre»-Programm festgelegt hat: «Verantwortliche Einkaufspraktiken». Denn diese hätten einen «direkten Einfluss auf die Löhne der Arbeiterinnen und Arbeiter unserer Zulieferer», schreibt Inditex auf seiner Homepage. Deshalb schule man seine Einkaufsteams darin, bei ihren Entscheidungen Nachhaltigkeitskriterien zu berücksichtigen – und damit dazu beizutragen, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Lieferkette «einen existenzsichernden Lohn» erhalten könnten.
Wir konfrontieren Inditex mit diesen Erkenntnissen, fragen unter anderem wörtlich: «Wir haben von Insidern gehört, dass die Firma, die den Pullover zugeschnitten, genäht, gebügelt, verpackt und das Label angebracht hat, von Inditex (über Spot) um die neun türkische Lira pro Stück erhalten hat. Können Sie diesen Betrag bestätigen?» Inditex bittet erst um eine Verlängerung der dreitägigen Frist zur Beantwortung der Fragen und antwortet schliesslich ausweichend: Sie bräuchten «mehr Informationen in Bezug auf diesen Vorwurf», da wir nicht angegeben hätten, «auf welchen der Arbeitsschritte (Zuschneiden, Nähen, Bügeln, Labelling / Verpackung) Sie sich beziehen». Eine erstaunliche Antwort, in zweierlei Hinsicht: Erstens war es ja der Konzern selbst, der uns den Namen der Fabrik angegeben hatte, die all diese Prozesse durchführt. Ob man es sich bei Inditex schlicht nicht vorstellen kann, dass der Betrag für all diese Arbeitsschritte zusammen derart tief liegt? Und zweitens müsste der Konzern die Zahlungen an die Hersteller sowie die darin enthaltenen Lohnkosten sowieso im Detail kennen – zumindest wenn der Konzern die Prinzipien bezüglich Einkaufspraktiken tatsächlich umsetzt, die er in seiner Stellungnahme uns gegenüber hervorhebt. Er schreibt nämlich, dass er dem Einkaufsprinzip des «ring-fencing» folge – was bedeutet, dass bei den Preisverhandlungen ein gesicherter, unverhandelbarer Betrag für die Lohnkosten festgesetzt wird.
Doch was Inditex in diesem Fall der Fabrik bezahlt hat und welcher Anteil davon Lohnkosten waren; entweder, das Unternehmen weiss es nicht – oder es will es uns nicht sagen. Stattdessen beteuert Inditex, dass man die Art und Weise überwache, «wie unsere Einkaufsteams Praktiken implementieren, die sich positiv auf die Arbeitsbedingungen der in der Lieferkette beschäftigten Menschen auswirken». Schöne, wenig sagende Worte, die mit der Realität, der wir in Izmir begegnen, nicht vereinbar scheinen. Die Preise, welche die Besitzer der beiden Fabriken erhalten, lassen ihnen faktisch nur zwei Möglichkeiten, wenn sie auch selbst noch profitabel wirtschaften wollen: Entweder, sie bezahlen den Arbeitenden weniger, als diese verdienen müssten. Oder sie lassen sie länger arbeiten, als sie sollten – oder dürften. Für beides finden wir Hinweise.
Tieflöhne und Tagesverträge
Die Monatslöhne für Fabrikarbeitende, von denen uns berichtet wird, bewegen sich zwischen 2000 und 2500 türkischen Lira – umgerechnet etwa 340 bis 420 Schweizer Franken. Das entspricht ungefähr dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns in der Türkei. Doch es ist gerade mal rund ein Drittel der 6130 Lira, die gemäss der Clean Clothes Campaign ein tatsächlicher Existenzlohn betragen müsste – ein Lohn also, von dem zwei Erwachsene und zwei Kinder in Würde leben können.
In seinem Verhaltenskodex schreibt Inditex, Zubringerbetriebe müssten Löhne bezahlen, die «in jedem Fall ausreichen, um zumindest die Grundbedürfnisse der Arbeitnehmer und ihrer Familien sowie alle anderen angemessenen zusätzlichen Bedürfnisse zu decken». Und der zweite Schwerpunkt im Programm «Workers at the Centre» lautet: «Durch Ermächtigung und Beteiligung der Arbeiter Existenzlöhne in der Industrie erzielen». Hinzu kommt, dass offenbar längst nicht alle Angestellten diese 2000 bis 2500 türkischen Lira erhalten. Von Leuten aus einer Fabrik erfahren wir, dass dort ein guter Teil der Belegschaft auf Tagesbasis angestellt sei; ohne jede Sicherheit, am nächsten Tag wieder Arbeit zu haben. Der Tageslohn hänge zudem davon ab, wie viel Stücke man geschafft habe, sagte man uns.
Inditex reagiert ausweichend. «Wir können bestätigen, dass Arbeiter in diesen Fabriken mehr als die Beträge verdienen, die Sie in Ihrer Mail erwähnen.» Nur, was heisst das, «Arbeiter»? Alle Arbeiterinnen und Arbeiter? Oder nur gewisse? Bezieht sich Inditex auf Bruttolöhne oder darauf, was die Fabrikarbeitenden tatsächlich erhalten? Das bleibt unklar.
Verboten lange Nächte
Das zweite Hauptproblem: überlange Arbeitszeiten. In der einen Fabrik wird rund um die Uhr gearbeitet, wie man uns erzählt, und zwar in nur zwei Schichten: Die eine dauere von morgens um 08:30 bis um 19:00, die andere von 19:00 bis 08:30 Uhr, die Tagesschicht mit einer Pause am Mittag und einer am Nachmittag, die Nachtschicht mit einer um Mitternacht und einer gegen Morgen. Eine Nachtschicht von über zwölf Stunden? Das wäre nicht nur ein Verstoss gegen den Inditex-Verhaltenskodex («Arbeitszeiten sind nicht übermässig», «Überzeit darf nicht regelmässig verlangt werden»), sondern auch illegal gemäss türkischem Arbeitsgesetz: Dieses besagt ganz klar, dass Nachtarbeit maximal siebeneinhalb Stunden betragen darf.
Inditex schreibt, ein Vierundzwanzigstundenbetrieb in nur zwei Schichten sei gemäss des Verhaltenskodex’ «nicht akzeptierbar», und beteuert: «Sollten wir je Beweise für die von Ihnen beschriebenen Arbeitsmuster finden, würden wir unverzüglich einen Corrective Action Plan aufstellen.»
Diese Pläne kommen dann zur Anwendung, wenn ein Verstoss gegen den Verhaltenskodex festgestellt wird. Gemäss dem Jahresbericht von Inditex wurden im vergangenen Jahr in der Türkei für 191 Fabriken Corrective Action Plans aufgestellt. Sind davon auch eine oder gar mehrere der Fabriken, die diesen Pullover hergestellt haben, betroffen? Und, falls ja, aufgrund welcher Verstösse gegen den Kodex? Diese Fragen beantwortet uns Inditex nicht. Der Konzern bestätigt lediglich, dass er in all diesen Firmen Audits durchgeführt habe.
Arethas Appell
Aretha Franklin hat 1967 nicht nur durch ihre musikalische Interpretation des ursprünglich vom Soulsänger Otis Redding komponierten Songs dafür gesorgt, dass «Respect» zu einer Hymne der Frauenrechtsbewegung wurde. Sie schrieb – gemeinsam mit ihrer Schwester – auch den Liedtext um, damit dieser nicht mehr die Geschichte eines Mannes erzählte, der von seiner Frau Respekt (und Gefügigkeit) einfordert – sondern jene einer Frau, die selbstbewusst Respekt einfordert. Die Franklin-Schwestern fügten dem Refrain unter anderem ein Akronym bei, das man nun auch auf dem Rücken des Zara-Pullovers findet, auf dem der Liedtext abgedruckt ist. «TCB» lautet es, eine damals in afroamerikanischen Communities gängige Abkürzung für «Taking Care of Business», also in etwa «tun, was getan werden muss».
Führt man sich vor Augen, dass die Bedingungen in türkischen Fabriken kaum schlechter sein dürften als in Zaras Zulieferbetrieben etwa in Bangladesch, Indien oder Kambodscha, scheint es noch ein langer Weg dahin zu sein, dass sich der Konzern die auf seine Pullover gedruckten Worte, mit denen Aretha Franklin selbstbewusst Respekt einforderte, auch selbst zu Herzen nimmt. Dass er sich ernsthaft dafür interessiert, was es für die Menschen in seinen Lieferketten bedeutet, Zara-Kleider zu nähen. Und dass er sie respektiert; indem er seinen Zulieferern Preise bezahlt, die es möglich machen, dass deren Angestellte Löhne verdienen, die zum Leben reichen.
Die Berechnung
Wie viel Respekt für faire Löhne steckt im «Respect»-Pullover von Zara? Weil Zaras Mutterkonzern Inditex weder Lohnniveaus noch Einkaufspreise offenlegt, haben wir selbst auf Grundlage Dutzender Quellen eine detaillierte Schätzung zur Preisaufteilung in der Fertigung des Pullovers angestellt.
Gemeinsam mit unseren holländischen und französischen Partnerorganisationen aus dem Netzwerk der Clean Clothes Campaign, der Schone Kleren Campagne und dem Collectif Éthique sur l’étiquette, haben wir das Pariser Recherchebüro Le Basic beauftragt, eine detaillierte Schätzung aufzustellen, wie sich die Kosten über die Lieferkette des «Respect»-Pullovers verteilen und wer wie viel daran verdient. Le Basic hat dafür Dutzende Geschäftsberichte, Handelsdatenbanken und weitere Quellen ausgewertet und Expertinnen und Experten befragt.
Die Haupterkenntnisse aus der Berechnung, die hier im Detail nachvollzogen werden kann:
- Zara (beziehungsweise dessen Mutterkonzern Inditex) kauft den «Respect»-Pullover international zu einem Durchschnittspreis von gut 30 Schweizer Franken. Dabei erzielt der Konzern pro Pullover gemäss unseren Schätzungen 4.86 CHF Gewinn (vor Mehrwertsteuer).
- Die Einkommen und Löhne aller in die Produktion involvierten Arbeiterinnen und Arbeiter – vom Baumwollfeld in Indien über die Spinnerei im zentraltürkischen Kayseri bis in die Fabriken in Izmir, wo der Pullover genäht und bedruckt wurde – betragen zusammengerechnet schätzungsweise gerade einmal 2.40 Franken – weniger als die Hälfte des Gewinnes von Zara.
- Damit die in die Produktion involvierten Arbeiterinnen und Arbeiter in der Türkei und in Indien von ihren Löhnen leben könnten, müssten diese je nach Produktionsschritt um den Faktor 1,9 bis 3,0 multipliziert werden. Pro Pullover würde die Differenz dennoch lediglich 4.19 Franken ausmachen – etwas weniger, als allein Inditex daran verdient.
Die ganze Berechnung finden Sie unter publiceye.ch/preis-pullover.
Globale Gerechtigkeit beginnt bei uns
Reportagen wie diese sind nur dank der Unterstützung unserer Mitglieder möglich: Werden Sie Mitglied von Public Eye, damit wir uns weiter dafür einsetzen können, dass die internationalen Modekonzerne in die Verantwortung genommen werden.
Möchten Sie unsere Arbeit besser kennenlernen? Bestellen Sie drei Ausgaben unseres Magazins kostenlos zur Probe oder schreiben Sie sich für unseren Newsletter ein, um informiert zu bleiben.
Text: Timo Kollbrunner, Public Eye
Bilder: Timmy Memeti (Hoody) / Public Eye (Izmir)
Infografik: opak.cc